Der Osmanische Staat 1300-1922
aufsteigen zu können. Das bedeutete nicht, daß in der
rechtsalltäglichen Praxis strikt hanafitische Normen durchgesetzt wurden. Man
handelte, oft mit erheblichen Konsequenzen für das Agrarregime, nach örtlichen
Gepflogenheiten.
Schcriat
I)as kanonische Recht stützte sich auf die Hauptwerke der hanafitischen
Juristen, wie sie in der Medrese gelehrt wurden. Ab der Zeit Süleymän I. galt
lbrähim Halebis (st. 1549) Multaka'l-abhur mit seinen über 17000 Fallbeispielen
als wichtigstes Referenzwerk. Die Kadis konsultierten auch Sammlungen von
Gutachten der prominenten Müftüs (fetva mecmü'alart). Ihre Entscheidungen
wurden in Amtsprotokollen (sicill defterleri) bei den Gerichten festgehalten.
kanün
Das nicht-kanonische Recht wurde in känün-nämes kodifiziert. Diese haben
die Form von gesammelten sultanischen Befehlsschreiben. Sie regeln in erster
Linie auf der Ebene der Provinzen (sancak, viläyet) Grundbesitz- und Steuerfragen. Andere känün-nämes betrafen bestimmte Gruppen wie Nomaden
(Yörüken) oder Janitscharen. Es gab aber auch Gesetzbücher, die im Gesamtstaat Gültigkeit hatten. Sie dienten dem Kadi als Leitschnur in Fragen des
Strafrechts und bei Immobilien- und Steuerangelegenheiten. Die wichtigsten
wurden von den Sultanen Mehmed II., Bäyezid II. und Süleymän 1. (Beiname
der „Gesetzgeber" = Känüni) erlassen.
Bruderschaften
Die Ausbreitung von religiösen Bruderschaften (tarfkät) ist ein von der osmanischen Gesellschaft untrennbares Phänomen. Charakteristisch ist ihr weites
Spektrum, das von hochorthodoxen Gemeinschaften (Nak§bendiye) bis zu heterodoxen Gruppen reichte (Bekta~is und viele andere). Letztere standen in engem Zusammenhang mit dem Janitscharenkorps und wurde mit diesem (nach 1826)
wenigstens für eine Generation unterdrückt. Im vorosmanischen Anatolien, aber
auch bei der Islamisierung Südosteuropas haben Derwische eine wichtige Rolle
gespielt. Die Organisationsformen der Bruderschaften unterschieden sich erheblich. Mevleviye, Bayramiye und Bektaeiye hatten anatolische Mittelpunkte
(Konya, Ankara bzw. Haci Bektag), die meisten anderen Bruderschaften
Hauptsitze in Istanbul. Initiationen in mehr als eine Gemeinschaft waren möglich. Mystisches Gottessuchertum und Alltag als ulemä schlossen sich nicht aus.
Der Staat kontrollierte diesen wichtigen Sektor der Gesellschaft über die Verleihung von Ernennungsdiplomen für die Scheichs, die Stiftung und Erneuerung
von Bauwerken und die Versorgung der „Zellenbewohner". In der Mitte des
19. Jahrhunderts ist von ca. zwei „hauptamtlichen" Derwischen unter 100 männlichen muslimischen Erwachsenen Istanbuls auszugehen. Diese Relation sagt
allerdings nichts über die wesentlich zahlreicheren Sympathisanten (muhibbän),
die außerhalb der Konvente lebten und einem „bürgerlichen" Beruf nachgingen.
H. NOMADEN UND BAUERN
Die Unterscheidung zwischen abgabepflichtigen (reäyä = „Herde") und steuerlich
privilegierten (askeri) Untertanen war von grundsätzlicher Wichtigkeit. Dabei
bezieht sich askeri nicht nur auf Waffenträger (asker = Soldat), sondern die
Verwaltungsschicht insgesamt. Als reäyä galten Nomaden, Bauern, Handwerker, Ladenbesitzer und Kaufleute. Nur in wenigen Ausnahmen wurden
Personen mit einem reäyä-Hintergrund in die askeri-Schicht aufgenommen.
Wenn Söldner aus der reäyä-Klasse entsprechende Forderungen stellten, kam es
zum Konflikt. Der höhere christliche Klerus genoß ebenfalls steuerliche Immunität, während gewöhnliche Priester alle regulären und irregulären Abgaben
leisten mußten. Der Begriff „Staatsangehöriger" (täbi`) wurde im 19. Jahrhundert als Bezeichnung für alle osmanischen Untertanen gültig.
Nomaden
Zu unterscheiden ist vor allem zwischen turkmenischen Nomaden, Kurden und
arabischen Beduinen. In Anatolien dürfte der Anteil von Wanderhirten an der
Gesamtbevölkerung zwischen 1520/30 und 1570/80 von 18% auf 16% gefallen sein.
Jenseits des Jordan lag ihr Anteil viel höher. In Syrien-Palästina bildete die Isohyete
von 250 mm Niederschlag im Jahr die Grenze der Dauersiedlung. Schon früh griff
der Staat in die Verhältnisse der Wanderhirten ein. Unter Sülevmän 1. wurde eine
detailliertes Gesetzbuch für die turkmenischen Yörüken erlassen. Im
17. Jahrhundert verstärkten sich die Bemühungen um feste Ansiedlung der
Nomaden in ihren Winterlagern (ktila). Die in Westanatolien nomadisierenden
Gruppen siedelten sich nur zum Teil an. Die
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