Der Osmanische Staat 1300-1922
Vorstellung von dem sozialen und
ethnischen Geflecht in entfernteren Räumen (Armenien, Kurdistan, Jemen). Die
osmanische Expansion war nur in einem sehr eingeschränkten Sinn von einer
erweiterten Weltsicht begleitet. Trotz der frühen Kopie einer Kolumbuskarte
von 1498 (der ältesten überhaupt!) durch den Schiffskapitän Piri Reis und des
Vorliegens einer auf italienische Quellen zurückgehenden Beschreibung beider
Amerika von ca. 1580 gab es bis zu Ebu Bekir b. Behräm ad-Dimi§kis Übersetzung
von Willem Janszoon Blaeus Atlas Major (1675) keine wesentliche Erweiterung
des osmanischen Wissens über Amerika. Die Überreichung von Globen durch den
französischen Botschafter 1539 an den Sultan ging der Zerstörung des Istanbuler
Observatoriums auf Anordnung des Scheichülislam im Jahr 1582 nur wenige
Jahrzehnte voraus. Das China-Kapitel im Seeatlas des genannten Piri Re'is
(Kitäb-i Bahriye) erinnert trotz mancher phantastischer, aus zweiter (portugiesischer) Hand übernommener Erzählungen über Menschen mit Hundeschnauzen und -nasen bzw. Elephantenohren zwar in manchen Stellen an zeitgenössische Reiseberichte wie den von Ludovico di Varthema (zuerst Rom 1510),
zeigt aber keinerlei Interesse für potentielle Fernhandelsgüter. Auch das Wissen
über die muslimische Nachbarländer (wie Iran) war gering. Ad hoc Gesandtschaften, muslimische Kaufleute (wie in Venedig) und Spione lieferten nur unzusammenhängende Berichte. Erst mit der Aufhebung des Unilateralismus in der
Diplomatie (Ende des 18. Jahrhundert) erreichten Informationen über die Welt
zögernd und in ungleicher Qualität die Zentrale. Die Regierungsperiode Abdülhamids II. kennt eine Anzahl von Erkundungsreisen, die staatlich-propagandistische Ziele (Mission der Fregatte Ertogrul nach Japan 1890 oder die
Gesandtschaft von Azm-Zäde Sädik nach Addis Abeba 1904) mit einer wirklichen Horizonterweiterung verbanden.
Überdehnung
des Staatsgebiets?
Der Osmanen-Staat hat seine Heere bis an die Tore der Residenzen seiner
wichtigsten Gegner geführt. Die Safawiden wurden gezwungen, ihre Haupt stadt Täbris zu verlegen (1548, 1585). Wien war zwei Belagerungen ausgesetzt
(1529, 1683). Dabei stellten die Kampagnen in die „beiden Iraks" (Ost-Iran und
Mesopotamien) schwerere logistische Aufgaben als die nach Ungarn. Eine
Überwinterung der Armeen in Frontnähe war in jedem Fall ausgeschlossen,
dagegen konnte sich das Heer in Südosteuropa aus dem Raum verproviantieren.
Der ungarische Kriegsschauplatz war von Istanbul ca. 40 Stationen entfernt. Der
Bagdad-Feldzug Muräds IV. (1637/8) erforderte 121 Marsch- und 88 Rasttage auf
dem Hinweg. Umgekehrt muß unterstrichen werden, daß kein iranischer Vorstoß
weiter als bis Van (Belagerung 1633) oder Kars (1578, 1735, 1744) vorgetragen
wurde. Erst Rußland, das im 19. Jahrhundert wiederholt im Alleingang einen
Zweifrontenkrieg in der europäischen wie anatolischen Reichshälfte zu führen
in der Lage war, bedrohte das osmanische Territorium als Ganzes.
Grenzen
Permanente Expansion und Markierung zwischenstaatlicher Grenzen schlossen sich aus, auch wenn von der Donau und dem Euphrat als „natürliche Grenzen"
im Sinn der byzantinischen Ausdehnung gesprochen wurde. Erst ab dem Vertragswerk von Karlowitz (1699) erschienen Beschreibungen der Grenzen zu
Österreich und Venedig als Anlage oder Nachtrag von Friedensverträgen. Die
1555 festgelegte osmanisch-iranische Grenze wurde im großen und ganzen 1612
bestätigt. Im Frieden von Kasr-i drin (1639) wurde erneut eine weitgehend
haltbare Grenzziehung mit Iran vereinbart. Nach dem Frieden von Erzurum
(1847) war eine Kommission vier Jahre lang damit beschäftigt, die Grenze
zwischen beiden Staaten in einem Protokoll festzulegen. Der wüstenhafte Charakter weiter Teile Nordafrikas und des Inneren der arabischen Halbinsel zwang
die Osmanen erst im frühen 20. Jahrhundert zu Festlegungen wie am Golf von
Akaba und zwischen dem Hinterland der britischen Kolonie Aden und der
osmanischen Provinz Jemen. Ein Ausdruck des osmanischen Wettlaufs mit den
europäischen Kolonialmächten in Afrika sind die Proteste gegen die englischfranzösischen Grenzkonventionen im westlichen Sudan (1890 und 1899).
Landwege
Die wichtigsten überregionalen Straßen auf der Balkanhalbinsel setzten das
schon in byzantinischer Zeit genutzte römische Wegenetz fort (Via militaris und
Via Egnatia als - von Istanbul aus gesehen - „mittlerer" und „linker Arm").
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