Der Pakt
Lebens!
Lügen zerbrachen mit jeder Seite, die Lilith las. Und im gleichen Maße wuchs ihr Zorn.
Auf Landru!
Auf Nona.
Auf alle, die mitgewirkt hatten an jenem Netz aus Lügen, in dem Lilith sich verfangen hatte.
Jede Seite ihrer wahren Geschichte führte Lilith einen Schritt weiter heraus aus diesem Gespinst aus Lug und Trug. Zurück in eine Wirklichkeit, die alles andere denn angenehm war, aber wenigstens doch real, tatsächlich gelebt.
Lilith las ...
... daß sie ein Kind zweier Welten war, eine Halbvampirin.
... daß sie hundert Jahre im Traumschlaf hätte zubringen sollen, jedoch zwei Jahre vor der Zeit erwacht war.
... daß sie ihre Bestimmung deshalb nicht wie vorgesehen erfüllen konnte und einen langen und leidvollen Weg zur Erlangung ihrer vollen Reife hatte zurücklegen müssen:
... daß sie Unglück über Freunde gebracht und diese Freunde verloren hatte.
Und sie erfuhr, daß Landru ihr ärgster Widersacher war - ihr Todfeind!
Lilith hielt inne und sah auf. Ihr Blick brannte, spiegelte jenes Feuer wider, das tief in ihr zu brennen begonnen hatte, während sie zur Tür starrte, durch die Landru vorhin verschwunden war.
Ihre Lippen bewegten sich unter einem lautlosen Schwur, den sie im Stillen ablegte, bei allem, was ihr je von Bedeutung gewesen war: Ihre Feindschaft zu Landru sollte enden. Noch heute. Mit seinem Tod - oder dem ihren .
*
»Dann ist es also vorbei.«
Nonas Worte wehten als bloßer Hauch von ihren Lippen. Fassungslosigkeit zeichnete ihre Züge.
Knapp hatte Landru erklärt, was er im Weltenpfeiler erfahren hatte - was unmittelbar bevorstand.
»Ja, so kann man es wohl nennen«, sagte er jetzt.
Nona schüttelte entgeistert den Kopf. »Ich hätte nie und nimmer geglaubt, daß so etwas möglich wäre -« Sie sah in die Runde, auf das Mauerwerk des Tempelinneren, aber ihr Blick schien hindurchzugehen, nach draußen, um über ganz Mayab zu schweifen.
»Es wird geschehen«, sagte Landru bestimmt, »und es hat bereits begonnen.« Er packte Nona am Arm, wollte sie mit sich ziehen. »Komm, laß uns gehen.«
Sie befreite sich aus seinem Griff. »Warte -«
»Worauf?« erwiderte der Vampir ungeduldig. Unter seiner rohen Haut zuckte es, als bewege sich dort winziges Getier.
»Die CHRONIK«, antwortete Nona nur.
»Was soll damit sein? Wir brauchen sie nicht mehr.« Landru unternahm einen weiteren Versuch, Nona dazu zu bewegen, ihm zu folgen.
»Ich gehe nicht ohne das Buch!« erklärte Nona, und ihr Ton ließ kein Widerwort zu. »Du magst darin ja vielleicht Antworten auf alle Fragen gefunden haben, die für dich von Interesse waren. Mir aber kann die CHRONIK noch vieles verraten.«
Landru lachte freudlos auf. »Wer sollte dir daraus vorlesen? Es gibt niemanden, der es könnte. Nur das Hurenbalg vermag die Schrift von Ninmahs Kindern zu entziffern. Und -«
»Und?« hakte Nona nach, als Landru kurz zögerte.
»Lilith Eden wird hier zurückbleiben«, sagte er dunkel.
»Laß es ruhig meine Sorge sein, was draußen weiter mit der CHRONIK geschieht«, meinte Nona. »Ich werde diesen Schatz nicht hierlassen. Dazu ist er zu wertvoll - für mich jedenfalls.« Vielleicht für mein weiteres Leben - und meine Geschwister im Fluch , ergänzte sie stumm.
Sekundenlang maßen die Wölfin und der Vampir sich schweigenden Blickes. Womöglich hätte niemand von beiden das lautlose Duell gewonnen, hätte nicht etwas anderes zu seinem Ende geführt -ein Geräusch wie von fernem Donner, gefolgt von einem sachten Beben des Steinbodens. Wäre die Situation eine andere gewesen, hätten sie diesen Signalen vielleicht nicht einmal besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Mit dem Wissen jedoch, das Landru aus dem Weltenpfeiler geschöpft hatte, gewann beides beängstigende Qualität.
Landru nickte.
»Nun gut, laß uns das Buch holen -«, knirschte er, und als übertrage sich sein Tonfall auf die Wände um sie her, knirschte es plötzlich auch in deren Gefüge. »Rasch!« fügte er seinen Worten alarmiert hinzu.
Nona lief voran. Erst an der Tür zu der Kammer angelangt, in der die CHRONIK und Lilith zurückgeblieben waren, ließ sie dem Vampir den Vortritt.
Landru stieß die Tür auf - und blieb in ihrem Rechteck so abrupt stehen, als habe eine unsichtbare Wand seinen Vorwärtsdrang gestoppt.
Nona, die ihm hatte folgen wollen, prallte gegen seinen Rücken.
»Was -?« fragte sie, verstummte aber wie abgeschnitten, als sie an Landru vorbei in die Kammer sah.
Lilith stand inmitten des Raumes. Irgend etwas
Weitere Kostenlose Bücher