Der Pakt
und was immer sich im Zentrum dieser Säule befinden mochte, es konnte nicht mehr Teil dieser Welt sein.
Einen Moment lang meinte Nona etwas wie ein Locken zu spüren, oder wenigstens doch eine Versuchung - den stillen, aber doch mächtigen Wunsch, sich selbst in das rotierende Etwas dort zu stürzen.
Es wäre so leicht, flüsterte es in ihr, einfach hingehen, und dann bräuchte es nur einen Schritt und - Und - was?
Sterben würde ich! schrie sie die Phantomstimme in ihren Gedan-ken nieder.
Sie war nicht wie Landru! Ihr würden die Energien des Pfeilers sehr wohl etwas anhaben können. Sie trug ja nicht einmal mehr den Keim des Geliebten in sich, der sie vielleicht zu schützen vermocht hätte. Und vor allem: Sie durfte ihr Leben nicht mehr so leichtfertig aufs Spiel setzen, wie sie es sich in fünf Jahrhunderten hatte erlauben dürfen - denn die Jahre, die der natürliche Lauf ihr noch ließ, waren unendlich kostbar geworden für Nona .
Vielleicht war es diese Überlegung, die Nona soweit brachte, einen anderen, seit langem gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen: Ma-yab zu verlassen, endlich und endgültig!
Sie hatte diese ewig düstere Welt gehaßt, vom ersten Augenblick an, da sie ihren Fuß über die Grenze gesetzt hatte. Das Leben hier war ein erbärmliches, und obwohl Nona jedes nur erdenkliche Privileg genossen hatte, war ihr, als müsse sie ein Gift atmen, das depressiv und schwach machte. Jede Stunde, die sie länger hier zubrachte, würde sie weiter auslaugen. Sie kam sich ohnedies schon vor wie eine Fremde.
Sie wollte ihr altes Leben wiederhaben und zurück in die Welt, die ihr Jagdgrund war. Denn auch ihren ureigenen Trieb konnte sie in Mayab nicht ausleben - hier durfte sie nur Nona sein, nicht aber die Wölfin. Sie wollte endlich wieder jagen unter vollem Mond, dessen Licht die Hermetische Stadt nicht erreichte. Eine einzige solche Jagd, das wußte, spürte Nona, würde genügen, um sie wieder zu alter Stärke zu führen.
»Leb wohl, Landru«, flüsterte sie in die Richtung des Weltenpfeilers. »Wo immer du bist, was immer du tust - mögen unsere Wege sich wieder kreuzen. Aber ich muß wieder meinen eigenen gehen.«
Die Worte klangen bitter, und sie hinterließen einen ebensolchen Geschmack in Nonas Mund. Weil sie wußte, daß dieser eigene Weg ein kurzer werden würde. Kurz im Vergleich zu ihrem bisherigen -denn sie stand nicht länger im Schutze der Unsterblichkeit, die Landru ihr einst verliehen hatte. Im Berg Ararat war ihr genommen worden, was den Prozeß des Alterns einst eingefroren hatte. Fortan würden die Jahre nicht mehr spurlos an ihr vorübergehen. Um so dringlicher schien es ihr, jedes einzelne davon zu nutzen und zu genießen.
Nona wandte sich ab und wollte schon zum Tor hinaus, als sie innehielt. Ihr Blick ging in die Richtung jenes Tempelraumes, wo sie Lilith wußte. Lilith und - die CHRONIK! Jenes Buch, in dem alles Geheime dieser Welt niedergeschrieben war.
Schon einmal hatte Nona es gesehen, bei ihrem unglückseligen Besuch im Ararat. Damals hatte sie von den Kindern Ninmahs erfahren, daß in dieser Blutbibel auch die Geschichte des Werwolfge-schlechts festgehalten war .
Eine Idee nahm Gestalt an hinter Nonas Stirn.
Ja, sie würde Mayab verlassen. Aber sie würde es nicht ohne die CHRONIK tun! Das darin gesammelte Wissen konnte von unschätzbarem Wert sein - gerade für sie. Denn womöglich würde es ihr einen ganz neuen eigenen Weg weisen .
Jemanden zu finden, der die Schrift der CHRONIK zu lesen verstand, schien ihr im Moment das geringste Problem. Unweigerlich dachte sie an Chiyoda, ihren weisen Mentor, der im fernen China lebte. Ihm schien kein Geheimnis verborgen zu bleiben. Also war es möglich, daß er auch das der Blutbibel kannte - oder zumindest würde lüften können.
Nona schob ihren Fluchtplan auf und wollte tiefer in den Tempel hineingehen, wo Lilith zurückgeblieben war. Doch sie hatte kaum fünf Schritte getan, als sie erneut verhielt; eine Stimme ließ sie in der Bewegung verharren - erschrocken, beinahe alarmiert.
Denn obwohl ihr die Stimme vertraut war, lag etwas in ihrem Tonfall, das Nona zutiefst beunruhigte - und die Worte taten ein Übriges dazu.
»Wir müssen raus hier!« rief Landru ihr zu, hörbar aufgeregt, fast panisch! »Schnell - ehe es zu spät ist!«
*
Liliths Blick verschlang förmlich, was in der CHRONIK geschrieben stand, während ihr Geist Geschichte gleichsam aufsaugte und trank. Die Geschichte ihres wirklichen, echten
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