Der Pakt der Liebenden
auch das Ende ihrer Ehe bedeutete, dass sie jetzt nur noch dem Namen nach Bestand hatte. Bobby hatte die Eltern zusammengehalten, aber seinem Vater war nicht klar gewesen, wie viel sie ihm verdankten, bis er aufs College ging und dann zurückkehrte. So viele ihrer Gespräche hatten sich um ihren geliebten Sohn gedreht, ihre Hoffnungen für ihn, ihre Ängste, ihre gelegentlichen Enttäuschungen, obwohl Letztere Daniel jetzt so belanglos vorkamen, dass er sich insgeheim schalt, weil er sie gegenüber dem Jungen überhaupt zur Sprache gebracht hatte. Er bereute jedes scharfe Wort, jeden Streit, jede Stunde, die nach einer Auseinandersetzung in mürrischem Schweigen verstrichen war. Dennoch erinnerte er sich an jede Meinungsverschiedenheit und wusste, dass jedes Wort, das aus Wut gefallen war, auch aus Liebe ausgesprochen worden war.
Das hier war das Zimmer seines Sohnes gewesen. Dort war der Fernseher, da die Stereoanlage und der Ständer für seinen iPod, obwohl Bobby einer der wenigen Jungs in der Stadt war, die daheim lieber Musik auf Vinyl hörten. Er hatte die alte Plattensammlung seines Vaters geerbt, größtenteils klassisches Zeug aus den sechziger und siebziger Jahren, und sie ab und zu mit gebrauchten Scheiben aus Secondhandläden und Flohmärkten aufgestockt. Auf dem Plattenspieler lag noch eine LP , eine Originalpressung von Neil Youngs After the Gold Rush, mit lauter feinen Kratzern übersät, aber nach Bobbys Ansicht dennoch hörenswert, weil das Knacken und Knistern zur Geschichte der Platte gehörte und sie durch die Blessuren, die sie im Lauf der Jahre davongetragen hatte, nur umso wärmer und menschlicher klang.
Der Großteil des Kellerbodens war mit einem riesigen Teppich bedeckt, der leicht nach verschüttetem Bier und alten Kartoffelchips roch. Dort standen Bücherregale und ein stahlgrauer Aktenschrank, in dessen Schubladen alte Fotos, Schulhefte, Lehrbücher und eher harmlose Pornos lagen, von denen die Mutter nichts wusste. Gegenüber vom Fernseher stand eine alte, durchgesessene rote Couch mit einem fleckigen blauen Kissen auf der einen Seite. Auf dem Kissen befand sich noch der Abdruck vom Kopf seines Sohnes, und auf der Couch zeichneten sich die Umrisse seines Körpers ab, so dass es im schummrigen Licht der einzigen Lampe im Kellerzimmer so wirkte, als wäre der Geist seines Sohnes irgendwie zurückgekehrt und hätte seinen alten, vertrauten Platz eingenommen, etwas Unsichtbares, das aber trotzdem Gewicht und Substanz hatte. Daniel hätte sich am liebsten dort eingerollt, sich in die Erhöhungen und Mulden der Couch geschmiegt, um eins mit seinem verlorenen Sohn zu werden, doch er tat es nicht. Denn dadurch würde er den Abdruck zerstören, der geblieben war, und etwas vom Wesen des Jungen vertreiben. Er würde sich nicht dort hinlegen. Niemand würde sich dort hinlegen. Alles würde so bleiben, wie es war, zum Gedenken an all das, was man ihm genommen hatte, ihnen beiden.
Zuerst war da nur der Schock gewesen. Bobby konnte nicht fort sein. Er konnte nicht tot sein. Alte und Kranke starben. Die Kinder anderer Männer starben. Sein Sohn war sterblich, aber noch nicht von der Sterblichkeit gezeichnet. Sein Tod hätte in weiter Ferne liegen, und sein Vater und seine Mutter hätten ihm vorausgehen sollen. Er hätte um sie trauern sollen. Es war nicht richtig, nicht natürlich, dass sie jetzt über seinen sterblichen Überresten weinen mussten, zusehen mussten, wie sein Sarg in die Erde abgelassen wurde. Er dachte wieder an den Anblick seines Sohnes auf der Bahre im Leichenschauhaus, mit einem Laken bedeckt, von Fäulnisgasen aufgequollen, mit einem tiefen roten Ring um die Kehle, wo das Seil eingeschnitten hatte.
Selbstmord. Das war das erste Urteil gewesen. Bobby hatte ein Seil um einen Baum gebunden, die Schlinge am anderen Ende um seinen Hals gelegt, sich mit seinem ganzen Körpergewicht nach vorn geworfen und war erstickt. Irgendwann war ihm bewusst geworden, dass etwas Schreckliches geschehen würde, und er hatte gekämpft, um freizukommen, hatte sich die Haut zerkratzt und einen Fingernagel ausgerissen, doch dann hatte sich die Schlinge zusammengezogen, denn der Knoten war so gebunden, dass sie das Werk der Zerstörung vollenden würde, falls ihn der Mut verließ.
Der Polizeichef hatte sie in diesen ersten Stunden gefragt, ob sie wüssten, weshalb Bobby sich umbringen wollte. War er unglücklich? Stand er unter ungewöhnlichem Stress und Anspannung? Schuldete er jemandem Geld? Bei der
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