Der Pakt der Liebenden
aber das galt auch für die Hälfte der Einwohner der Stadt. Das Gas im Haus der Faradays war, soweit man das einschätzen konnte, irgendwann zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens aufgedreht worden. Um diese Zeit lagen auch die meisten Menschen in der Stadt daheim im Bett.
Doch der Polizeichef glaubte eigentlich nicht, dass die junge Kindler irgendetwas mit dem Mord an Bobby Faraday oder dem Tod seiner Eltern zu tun hatte, obwohl er schon der Sorgfaltspflicht wegen die Möglichkeit nicht ganz ausschließen konnte. Als er jedoch gegenüber Homer Lockwood, dem stellvertretenden Rechtsmediziner, der in der Stadt wohnte und sowohl Emily als auch die Faradays vom Sehen kannte, erwähnt hatte, dass Emily als Verdächtige in Frage käme, hatte der alte Mann nur gelacht.
»Sie hat nicht die Kraft, die nötig war, um Bobby Faraday so was anzutun«, hatte er dem Polizeichef erklärt. »Die hat doch keine Arme aus Stahl.«
Als Emily dem Polizeichef mitteilte, dass sie vorhabe, die Stadt zu verlassen, konnte er ihr deshalb kaum Vorhaltungen machen. Er bat sie darum, ihn zu verständigen, wenn sie sich irgendwo anders niederließ, und ihn in Kenntnis zu setzen, wenn sie ein weiteres Mal umziehen sollte, wozu sie sich bereiterklärte, aber er hatte keinen Grund, sie aufzuhalten. Sie gab dem Polizeichef eine Handynummer, unter der sie zu erreichen sei, und die Adresse eines Urlaubshotels in Miami, in dem sie einen Job als Bedienung annehmen wollte, und erklärte ihm, dass sie jederzeit bereit sei zurückzukehren, falls sie bei den Ermittlungen weiterhelfen könne. Doch als sich Dashut mit ihr in Verbindung setzen wollte, gab es die Handynummer nicht mehr, und der Direktor des Hotels in Miami teilte ihm mit, dass sie den Job nicht angetreten habe.
Emily Kindler war allem Anschein nach verschwunden.
Emily fuhr nach Nordosten. Sie wollte das Meer riechen, zur Besinnung kommen. Sie wollte das Ding abschütteln, das sie beschattete. Es hatte sie in dieser kleinen Stadt im Mittelwesten gefunden, und es hatte die Faradays umgebracht. Es würde sie wieder finden, das wusste sie, aber sie war nicht bereit, sich einfach in eine dunkle Ecke zu legen und darauf zu warten, dass es geschah. Sie wollte möglichst weit weg, vielleicht sogar nach Kanada.
Männer schauten sie an, als sie im Greyhound-Bus saß und die flache, eintönige Landschaft betrachtete, die allmählich in sanfte Hügel überging, auf denen teilweise noch tiefer Schnee lag. Ein Typ in einer abgewetzten Lederjacke, der nach Schweiß und Pheromonen roch, versuchte an einem Rastplatz, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber sie wandte sich ab und nahm wieder hinter dem Fahrer Platz, einem Mann von Ende fünfzig, der spürte, wie verletzlich sie war, aber im Gegensatz zu anderen nicht die Absicht hatte, dies auszunützen. Stattdessen hatte er sie unter seine Fittiche genommen und bedachte jedes andere männliche Wesen unter siebzig mit bösen Blicken, sobald es sich auf dem freien Platz neben ihr niederzulassen drohte. Als der Mann in der Lederjacke wieder in den Bus stieg und sich näher zu ihr setzen wollte, befahl ihm der Fahrer, wieder auf seinen alten Platz zu gehen und sich nicht von der Stelle zu rühren, bis sie in Boston waren.
Dennoch musste Emily wegen der Avancen des Mannes an Bobby denken, und sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie hatte ihn zwar nicht geliebt, aber gemocht hatte sie ihn doch. Er war linkisch gewesen, aber auch lustig und süß, jedenfalls bis er angefangen hatte zu trinken und etwas von seinem Frust und der Wut auf seinen Vater, die kleine Stadt und sogar auf sie hochgekommen war.
Sie war sich nie ganz sicher gewesen, was ihr an einem Mann gefiel. Manchmal meinte sie, sie hätte wenigstens eine ungefähre Vorstellung, eine gewisse Ahnung davon, was sie suchte, so als hätte sie in der Dunkelheit kurz ein Licht gesehen. Sie reagierte darauf, worauf der betreffende Mann seinerseits reagierte. Manchmal war es zu spät für einen Rückzieher gewesen, und sie hatte die Folgen erdulden müssen: Beschimpfungen, mitunter sogar körperliche Gewalt, und einmal wäre es fast noch schlimmer gekommen.
Wie manch anderen jungen Männern und Frauen war es ihr schwergefallen, einen Sinn in ihrem Leben zu erkennen. Der Weg, den sie einschlagen sollte, war ihr noch nicht klar geworden. Sie dachte daran, Künstlerin oder Schriftstellerin zu werden, denn sie liebte Bücher, Bilder und Musik. Wenn sie in einer Großstadt war, konnte sie sich
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