Der Pakt der Liebenden
stundenlang in Museen und Galerien aufhalten und vor den großen Gemälden stehen, als hoffte sie, in sie gesogen zu werden, eins mit ihnen zu werden. Wenn sie es sich leisten konnte, kaufte sie Bücher. Wenn sie nicht so viel Geld zur Verfügung hatte, ging sie in die Bibliothek, obwohl es ihr nicht so viel Spaß machte, ein Buch zu lesen, das ihr nicht gehörte. Trotzdem hatte sie dabei das Gefühl, dass sie etwas erreichen konnte, und kam sich nicht mehr so haltlos und getrieben vor. Andere hatten mit den gleichen Schwierigkeiten gekämpft und die Oberhand behalten.
Sie kam nicht bis zur kanadischen Grenze, sondern stieg in einer Stadt in New Hampshire aus. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber sie hatte gelernt, ihrer Intuition zu vertrauen. Nach einer Woche gefiel es ihr dort immer noch nicht, aber sie blieb trotzdem. In dieser Stadt gab es weder Kunst noch Kultur. Sie verfügte über ein kleines Museum, in dem ein Mischmasch aus Lokalgeschichte und Werken einheimischer Künstler geboten wurde. Alle anderen Ausstellungsstücke wirkten wie planlos hinzugefügt, so als hätten diejenigen, die sie angeschafft hatten, entweder nicht das nötige Geld oder keinen Geschmack, wären aber der Meinung gewesen, eine Stadt brauche ein Museum, ohne sich darüber im Klaren zu sein, warum. Von dieser Einstellung schien die ganze Bevölkerung durchdrungen zu sein, und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einem Umfeld gelebt zu haben, in dem jegliche Kreativität derart unterdrückt wurde. Es sei denn, sie dachte an die Kleinstadt, die sie einst als ihre Heimat bezeichnet hatte. Auch dort war für Kunst und Schönheit kein Platz gewesen, und in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, hatte man für solche Kinkerlitzchen erst recht nichts übrig. Dort hatte es nicht einmal Zeitschriften gegeben, es sei denn, man zählte die Pornos ihres Vaters dazu.
Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Ihre Mutter hatte sie verlassen, als sie noch ein Kind war, aber versprochen, zu ihr zurückzukehren, doch sie kam nicht wieder, und nach einiger Zeit traf die Nachricht ein, dass sie irgendwo in Kanada gestorben und von den Angehörigen ihres neuen Freundes begraben worden war. Emilys Vater tat alles, was für ihre Ausbildung und ihr Überleben nötig war, aber kaum mehr. Sie ging zur Schule und hatte immer Geld für Bücher. Sie hatten genügend zu essen, aßen aber immer zu Hause und nie in Restaurants. Für die Lebenshaltungskosten wurde etwas Geld beiseitegelegt, und er gab ihr ein bisschen für sich, aber sie wusste nicht, wo das übrige Geld blieb. Er trank weder über die Maßen, noch nahm er Drogen. Und er legte auch nie Hand an sie, sei es aus Zuneigung oder vor Wut, und als sie älter wurde und körperlich reifte, achtete er darauf, nie etwas zu tun oder zu sagen, das man für ungehörig halten könnte. Dafür war sie ihm dankbarer, als er je erfahren würde. Sie hatte Geschichten gehört, die ihr Mädchen in der Schule erzählt hatten, Geschichten von Vätern, Stiefvätern, Brüdern und Onkeln, von den neuen Freunden der müden, einsamen Mütter. So ein Mann war ihr Vater nicht. Er hielt lediglich Abstand und sprach kaum mit ihr.
Dennoch hatte sie sich nie für vernachlässigt gehalten. Als sie in die Pubertät kam und in der Schule unangenehm auffiel – sich im Unterricht danebenbenahm, auf der Toilette weinte, sprach ihr Vater mit dem Rektor und sorgte dafür, dass Emily einen Psychologen besuchte, doch sie vertraute sich dem freundlichen, ruhigen Mann mit der randlosen Brille ebenso wenig an wie ihrem Vater. Sie wollte nicht mit einem Psychologen sprechen. Sie wollte unter keinen Umständen als ungewöhnlich wahrgenommen werden, deshalb erzählte sie ihm nichts von den Kopfschmerzen, den Aussetzern oder den Träumen, in denen etwas aus einem dunklen Loch im Boden kam, ein Ding mit spitzen Zähnen, das an ihrer Seele zehrte. Sie erzählte nichts von ihren Ängsten oder dem Gefühl, dass ihre Identität etwas Fragiles sei, das jederzeit verloren oder zerbrochen werden könnte. Nach zehn Sitzungen kam der Psychologe zu dem Schluss, dass sie ein normales, wenn auch sensibles Mädchen sei, das mit der Zeit seinen Platz in der Welt finden werde. Allerdings bestünde die Möglichkeit, dass ihre Schwierigkeiten etwas Ernsteres ankündigten, eine Art Schizophrenie vielleicht, und er riet sowohl ihr als auch ihrem Vater, auf jede auffällige Veränderung in ihrem Verhalten zu achten. Ihr Vater hatte sie danach anders
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