Der Pakt der Liebenden

nicht meine leibliche Mutter, und ich verstehe jetzt, warum zwischen uns immer eine gewisse Distanz bestand, sogar bis zu ihrem Tod, aber wir waren einander ähnlicher, als wir uns beide hätten vorstellen können. Sie nahm mich nach den tödlichen Schüssen in Pearl River mit nach Norden, und ihr Vater, mein geliebter Großvater, wurde zu einer inspirierenden Kraft in meinem Leben, aber auch meine Mutter übernahm eine größere Rolle, als ich älter wurde. Manchmal glaube ich, dass sie erst nach dem Tod meines Vaters fähig war, ihm zu verzeihen und vielleicht auch mir die Begleitumstände meiner Geburt zu vergeben. Allmählich kamen wir einander näher. Sie brachte mir die Namen von Bäumen, Pflanzen und Vögeln bei, denn das war ihr Zuhause, dieser Staat im Norden, und auch wenn ich das Wissen, das sie mir vermitteln wollte, nicht ganz zu würdigen wusste, habe ich, glaube ich, die Gründe verstanden, aus denen sie mit mir kommunizieren wollte. Wir trauerten beide, aber sie wollte nicht zulassen, dass ich mich darin verlor. Und deshalb gingen wir jeden Tag eine Zeitlang gemeinsam spazieren, ohne Rücksicht auf das Wetter, und manchmal redeten wir miteinander, manchmal aber auch nicht, doch es genügte, dass wir zusammen waren und lebten. In diesen Jahren wurde ich der Ihre, und jedes Mal, wenn ich heute den Namen eines Baumes, einer Blume oder eines winzigen Kriechtieres ausspreche, gedenke ich ihrer.
    Elaine Parker rief ihren Mann nach einer Woche an, und sie sprachen eine Stunde lang miteinander. Man gewährte Will unbezahlten Urlaub, der zum Erstaunen einiger Kollegen im Revier von Frank Mancuso, dem stellvertretenden Leiter der Rechtsabteilung, genehmigt wurde. Will fuhr nach Norden zu seiner Frau, und als sie nach New York zurückkehrten, hatten sie ein Kind dabei und erzählten von einer schweren, vorzeitigen Geburt. Sie nannten den Jungen Charlie, nach Charles Edward Parker, dem Onkel des Vaters, der in der Schlacht um Monte Cassino gefallen war. Die heimlichen Freunde hielten Abstand, und erst viele Jahre später hörte Will wieder von ihnen. Und als sie sich mit ihm in Verbindung setzten, schickten sie Epstein, der ihm mitteilte, dass das, was sie so lange befürchtet hatten, eingetreten war.
    Das Liebespaar war zurückgekehrt.

21
    Mickey Wallace kam es so vor, als wäre ihm der Nebel aus Maine gefolgt. Dichte, tentakelartige Schwaden zogen an seinem Gesicht vorbei, reagierten wie ein Lebewesen auf jede seiner Körperbewegungen und nahmen langsam neue Formen an, bevor sie davontrieben, so als ob sich die Dunkelheit zu einem Gebilde verwebte, das ihn umschlang, während er vor dem kleinen Haus an der Hobart Street in Bay Ridge stand.
    Bay Ridge war beinahe ein Vorort von Brooklyn, eine Wohngegend für sich. Ursprünglich hatten dort größtenteils Norweger gewohnt, als es im 19. Jahrhundert noch Yellow Hook hieß, dazu ein paar Griechen und Iren, so wie immer, aber nach der Einweihung der Verrazano Narrows Bridge in den 1970er Jahren hatte sich das geändert, als viele Menschen nach Staten Island zogen, und Anfang der neunziger Jahre wurde Bay Ridge zusehends von Einwanderern aus dem Nahen Osten besiedelt. Die Brücke beherrschte den südlichen Teil der Gegend, doch Mickey hatte immer den Eindruck, dass sie bei Nacht realer wirkte als am Tag. Die Lichter schienen ihr Substanz zu verleihen; tagsüber hingegen sah sie aus wie ein gemalter Hintergrund, eine graue Masse, die zu groß für die darunter liegenden Gebäude und Straßen war.
    Die Hobart Street befand sich zwischen der Marine Avenue und der Shore Road, wo man von einer Reihe von Bänken aus auf den Shore Road Park blickte, einen von Bäumen gesäumten Hang, der zum Belt Parkway und dem Wasser der Narrows hinabführte. Auf den ersten Blick schien die Hobart Street nur aus Wohnblocks zu bestehen, aber auf der einen Seite stand eine Reihe Brownstones, kleine, aus Sandstein gebaute Einfamilienhäuser, die durch eine Auffahrt voneinander getrennt waren. Nur die Nummer 1219 wirkte verlassen und verwahrlost.
    Der Nebel erinnerte Mickey daran, was er bei Scarborough erlebt hatte. Jetzt stand er wieder vor einem Haus, in dem seiner Meinung nach niemand war. Das hier war nicht seine Gegend, nicht einmal seine Stadt, doch er kam sich nicht fehl am Platz vor. Schließlich war sie ein wichtiges Element in der Geschichte, der er schon so lange nachging und die er jetzt drucken lassen wollte. Er hatte im Laufe der Jahre schon mehrmals hier gestanden. Zum