Der Pakt der Wächter: Roman
so dass es wahrscheinlich eher aussieht, als wäre mir eine Fliege ins Auge geflogen.
»Nach 1966 habe ich drei Jahre in San Francisco gelebt. Haight-Ashbury. Summer of Love . LSD. Flower power .«
In ihrer Stimme schwingt ein Hauch von Sonne und Wärme mit, der aus einem Winkel in ihrem Innern kommt, zu dem niemand Zugang hat.
»Vielleicht war das meine Weise«, sie breitet die Arme aus, »mich gegen all das hier aufzulehnen.«
»Armes, kleines, reiches Mädchen?«, sage ich, um Längen spitzer als geplant.
Ihr Lächeln verzerrt sich in eine so abweisende und bittere Grimasse, dass ich davon ausgehe, sie aufs Gröbste beleidigt zu haben. Aber genauso schnell ist es auch wieder warm und herzlich.
»Ich bin wie die Prinzessin in einer königlichen Familie ohne Königreich und ohne Volk aufgewachsen. Mein Vater war ein Trinker, meine Mutter umgab sich mit Liebhabern, mein großer Bruder Esteban … na ja …«
Sie sieht an den Himmel. Wir folgen der blinkenden Flugbahn eines Flugzeuges.
»Wissen Sie, Bjørn, meine Familie war nie ein Teil dieser Gesellschaft oder Kultur. Der Miércolespalast hätte genauso gut mitten im Hyde Park in London oder im Central Park in Manhattan, in Bombay oder Tokio liegen können, und wir hätten genauso abgeschieden und weltfern gelebt wie hier.«
Ich bin in einem weiß gestrichenen, alten Holzhaus in einer stillen Seitenstraße in Grefsen aufgewachsen. Aber ich verstehe trotzdem, was sie meint.
»Viele neiden uns unseren Reichtum.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Aber das ist kein einfaches Leben.«
»Das sagen reiche Leute häufig.«
»Ich möchte nicht blasiert wirken. Aber wahrscheinlich bin ich genau das. Reichtum macht etwas mit einem. Und das ist nicht schön.«
Sie fährt sich mit den Fingern durchs Haar. In dem dämmrigen Licht strahlt ihre glatte Haut gülden. Ich kann nicht fassen, dass sie zwanzig Jahre älter ist als ich. Sie kommt mir vor wie eine zarte, alterslose Elfe.
»Die Hippiezeit und alles, was sie mit sich brachte, war – so paradox das klingen mag – meine Rettung. Ohne diese Möglichkeit der Rebellion wäre ich zugrunde gegangen. Ich musste ein anderer Mensch werden, um mich zu finden. Verstehen Sie das?«
»Ich denke schon.«
»Meine Familie hat nichts davon mitbekommen. Sie ist davon ausgegangen, dass ich ein ruhiges und zurückgezogenes Leben auf dem Internat lebte.«
»Wie hat sie die Wahrheit erfahren?«
»Ich wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Mit einer Überdosis. Die Ärzte haben nicht daran geglaubt, dass ich überleben würde. Der Internatsleiter bestellte meine Eltern nach San Francisco. Und was glauben Sie, geschah dort? Der Trunkenbold und die Halbweltdame haben mich enterbt. Das nenne ich die ultimative Heuchelei! Ich wurde für als ihrer nicht würdig befunden. Esteban erbte alles. Ausgerechnet er !«
Den Blick in meinen verhakt, holt sie Luft, um noch etwas hinzuzufügen, etwas Wichtiges, schluckt es dann aber herunter und sieht weg. Als sie erneut das Wort ergreift, erzählt sie etwas ganz anderes als ursprünglich geplant. Ich frage mich, warum sie so zögerlich ist. Vielleicht weil sie mich nicht kennt. Oder weil die Worte zu schwer zu ertragen sind.
»Nach dem Entzug und meinem Examen habe ich viele Jahre in London, Rom und Rio de Janeiro gelebt. Ich habe nie geheiratet. Aber glauben Sie nicht, dass ich einsam war. Erst viele Jahre nach dem Tod meiner Eltern bin ich nach Hause zurückgekehrt. Da war Esteban bis zur Perfektion in Vaters Rolle hineingewachsen, so dass ich mich manchmal gefragt habe, ob sie ein und dieselbe Person waren.«
»Warum sind Sie zurückgekommen?«
Sie senkt den Blick. »Weil«, sagt sie mit einem Anflug von Trotz, »ich hierher gehöre. Und das kann mir niemand nehmen. Niemand. Weder Mutter noch Vater, noch Esteban. Am allerwenigsten Esteban.« Sie lächelt. »Aber es gibt noch einen anderen Grund. Vielleicht den wichtigsten. Ich kann hier am besten arbeiten. Mit der Bibliothek und den historischen Schriften um mich herum. Und in der Nähe des Konservators, natürlich.«
»Wer?«
»Ein Kollege. Und Freund. Sie werden ihn kennenlernen.«
In einem absurden Schub von Eifersucht frage ich mich, ob er mehr ist als nur ein Kollege und Freund.
»Ihr Bruder sagte etwas von einer Abhandlung, an der Sie arbeiten?«
»Ach, was weiß er schon! Aber ja. Ich habe in Berkeley Theologie und Geschichte studiert. Jetzt habe ich eine halbe Stelle als Gastprofessorin an der Universidad Autónoma de Santo
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