Der Pakt der Wächter: Roman
blauen Dunkel des Parks glitzern und blinken im Licht der Scheinwerfer. Das Licht auf der Terrasse hat einen Schwarm Insekten angelockt, den es nicht wieder freigibt.
»Sie dürfen Esteban nicht vertrauen. Niemals.«
»Er ist Ihr Bruder.«
Ihre Augen beginnen zu glühen.
»Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, Teil einer Familie von Betrügern und Lügnern zu sein?«
Das kann ich tatsächlich. Vor ihrem Tod hat mich meine Mutter gefragt, ob ich ihr verzeihen könne, was geschehen sei, als Papa an dieser Felswand in der Telemark abgestürzt ist. Ich habe ihre Wange getätschelt und »Natürlich, natürlich« gesagt. Nur dass das nicht die Wahrheit war.
Doch davon sage ich Beatriz nichts. Vielleicht ein andermal. Trotzdem streckt sie ihre Hand aus und legt sie auf meine. Eine zarte, braune Hand auf meiner milchweißen Pranke.
»Esteban sagt, er hätte Ihnen alles erzählt?«
»Na ja, möglicherweise nicht alles.«
»Nein, nicht alles.«
Wir schweigen für einen Moment.
»Wenn Sie mich ansehen«, sagt sie, »kommen Sie wohl kaum auf den Gedanken, dass ich von einer Wikingersippe abstamme. Nein, nein, Sie brauchen nicht zu antworten. Die karibischen Gene haben in mir längst die Oberhand über die nordischen gewonnen.« Sie drückt meine Hand und lässt mich dann los. »Es tut weh, wenn man sich für seine Familie schämen muss. Für seine Ahnen.«
»Haben Sie einen Grund, sich zu schämen?«
»Sie haben ja keine Ahnung …«
»Mich würde die Standhaftigkeit Ihrer Ahnen mit Stolz erfüllen. Allein die Jahrhunderte, in denen sie die Mumie bewacht haben!«
Sie lacht, kalt und höhnisch.
»Ich kann mir denken, was Esteban Ihnen erzählt hat.«
»Hat er gelogen?«
Die Tür geht auf. Ein Aufzug von Kellnern räumt die Teller ab und serviert das Dessert: warme Beeren auf selbst gemachtem Vanilleeis. Sie schenken Dessertwein in kleine kristallene Gläser, ehe sie wieder verschwinden und die Türen so leise hinter sich schließen, dass ich mich umdrehen muss, um mich zu vergewissern, dass sie tatsächlich gegangen sind.
»Ja, er hat gelogen. Auch wenn einiges wahr war. Das meiste. Vielleicht. Aber was den wichtigsten Punkt angeht, so hat er gelogen.«
»Warum?«
»Esteban ist von der Geschichte vergiftet worden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir alle sind das Produkt der Entscheidungen unserer Vorväter.«
»Aber deswegen haben wir doch alle auch einen freien Willen?«
»Manch einer wird von seinem freien Willen verdorben.«
»Esteban?«
»Mein Bruder ist korrupt, die Betrügereien all der Jahrhunderte haben ihn geprägt, die Doppelmoral und die Prinzipienlosigkeit.«
Sie presst die Worte mühsam hervor, als hinge an jedem eine Kette mit Eisenkugel.
Ich sehe sie fragend an, während ich eine lauwarme Himbeere lutsche. Die unterdrückte Wut treibt ihr die Röte auf die Wangen.
»Was versuchen Sie mir zu sagen, Beatriz?«
Mit einer silbernen Gabel treibt sie eine Heidelbeere durch das schmelzende Vanilleeis. Ihre Augen sind feucht.
»Wie, glauben Sie, konnten meine Vorfahren ein Schloss wie dieses hier bauen?«
»Mit dem Gold der Inka?«
Leises Lachen. »Das Gold der Inka und Azteken hat sicher auch dazu beigetragen, ja. Die Wächter schlossen sich den Conquistadores an und rissen – ihrem Wikingerblut folgend – alle Reichtümer der Karibik und des Festlandes an sich. León. Velázquez. Cortés. Pizarro. De Soto. De Coronado. Wir waren überall dabei. Laut Familienlegende waren es meine Urahnen, die seinerzeit in Südamerika die sagenumwobene Goldstadt El Dorado entdeckten. Daher soll unser Reichtum stammen.«
»Ist El Dorado nicht bloß ein Mythos?«
»So sagt man. Aber wer weiß? Die Grundlage für den unfassbaren Reichtum meiner Familie wurde zwischen 1500 und 1600 gelegt. Ein Großteil des Geldes stammt mit Sicherheit aus den Raubzügen der Conquistadores. Aber – wir haben auch gewaltige Summen aus Europa erhalten.«
»Von wem?«
»Von der mächtigsten Institution im Europa des 16. Jahrhunderts.«
»Die wäre?«
»Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Was glauben Sie? Wie lange verhielt sich die Bruderschaft, die Sie als die Wächter kennen, wirklich loyal Asim und ihrem Auftrag gegenüber?«
Ich hatte bis zuletzt gehofft, Esteban sei ein Wächter-jemand, der ehrenhaft den Pakt verwaltete, den seine Vorfahren eingegangen waren.
»Meine Ahnen sind abtrünnig geworden, Bjørn. Sie haben Asim verraten, all jene, die ihr Leben geopfert haben, sie haben ihre Mission
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