Der Pakt
nicht fremd. Seine zweite Frau Irene kam aus Posen. Das hatte er allerdings nicht von ihr selbst erfahren, sondern von seinem obersten Vorgesetzten, dem damaligen Chef des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich. Ein halbes Jahr nach seiner Hochzeit im Mai 1940 hatte er von Heydrich eine Akte in die Hand gedrückt bekommen, aus der hervorging, dass Irenes Tante mit einem Juden verheiratet war. Was Heydrich damit sagen wollte, war nur zu klar gewesen: Schellenberg war jetzt in seiner Hand, zumindest, solange ihm die Verwandten seiner Frau am Herzen lagen. Doch schon zwei Jahre später war Heydrich einem Anschlag tschechischer Partisanen zum Opfer gefallen, und der Auslandsnachrichtendienst, Amt VI des bis dahin von Heydrich geleiteten Reichssicherheitshauptamts, war Schellenberg anvertraut worden.
Im Goldenen Saal des Schlosses fehlten wohl nur zwei wichtige Männer: Ernst Kaltenbrunner, Heydrichs Nachfolger als Chef des Reichssicherheitshauptamts (dem auch der SD und die Gestapo angegliedert waren), und Himmlers früherer Adjutant Karl Wolff, jetzt höchster SS-Offizier in Italien.
Offiziell hieß es, beide seien zu krank, um an Himmlers Offizierstreffen in Posen teilzunehmen, denn Kaltenbrunner leide an Phlebitis, und Wolff erhole sich gerade von einer Nierensteinoperation. Doch Schellenberg, ein ebenso 50
wohlinformierter wie findiger Mann, kannte die Wahrheit.
Kaltenbrunner weilte auf Order Himmlers zum Alkoholentzug in einem Schweizer Sanatorium, während Wolff und sein ehemaliger Chef nicht mehr miteinander sprachen, seit der Reichsführer-SS Wolff die Genehmigung verweigert hatte, sich von seiner Frau Frieda scheiden zu lassen, um eine elegante, blonde Gräfin zu heiraten. Die Genehmigung hatte er schließlich von Hitler persönlich erteilt bekommen, nachdem er sich über den Reichsführer hinweg an den Führer gewandt hatte. Das konnte ihm Himmler niemals verzeihen.
Bei der SS, dachte Schellenberg, wurde es wirklich nie langweilig. Nun ja, fast nie. Eine Himmler-Rede war etwas, dem er mit Grausen entgegensah, denn der Reichsführer neigte zur Weitschweifigkeit, und angesichts der Menge von SS-Offizieren, die in dem von Franz Schwechten gestalteten Goldenen Saal versammelt waren, rechnete Schellenberg mit einer Rede von der Prägnanz und Unterhaltsamkeit des Mahabharata. Das Mahabharata war ein Buch, das der junge Brigadeführer sich zu lesen gezwungen hatte, um Heinrich Himmler, der davon zu schwärmen pflegte, besser zu verstehen, und nach der Lektüre war Schellenberg tatsächlich klarer gewesen, woher Himmler seine abwegigeren Ideen in Sachen Pflichterfüllung, Disziplin und – ein Lieblingswort Himmlers –
Opfer bezog. Ja, Schellenberg schien es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Himmler sich für einen Hohepriester oder gar Avatar des Höchsten Gottes Vishnu hielt – auf die Erde hinabgestiegen, um Recht und Gesetz, die Tugend und das Gute zu retten. Außerdem hatte Schellenberg den Eindruck gewonnen, dass Himmler die Juden so sah wie das Mahabharata die einhundert Dharatarashtras, jene grotesken menschlichen Inkarnationen von Dämonen, die die ewigen Feinde der Götter waren. Hitler vertrat da ja ganz ähnliche Ansichten, auch wenn Schellenberg es persönlich für wahrscheinlicher hielt, dass es sich beim Führer um schlichten Judenhass handelte, wie er in 51
Deutschland und Österreich nicht eben selten war. Schellenberg selbst hatte nichts gegen Juden. Sein Vater war Klavierbauer gewesen, zunächst in Saarbrücken und dann in Luxemburg, und zu seinen besten Kunden hatten viele Juden gezählt. Insofern war es günstig, dass Schellenbergs Amt mit der ganzen praktischen Seite dieses Ariergefasels vom jüdischen
»Untermenschen« und »Judengeschmeiß« kaum in Berührung kam. Die Antisemiten in Amt VI – und deren gab es nicht wenige – hüteten sich, ihre Ansichten in Walter Schellenbergs Gegenwart zu äußern. Den jungen Chef des Auslandsnachrichtendiensts interessierte nur das, was ein britischer Geheimagent, Captain Arthur Conolly, einst »das Große Spiel« genannt hatte – Spionage, Intrige und militärische Abenteuer.
Ohne dem riesigen Führerbild, das unter einem der drei riesigen Bogenfenster hing, mehr als nur einen flüchtigen Blick zu schenken, nahm sich Schellenberg Kaffee von einem riesigen Refektoriumstisch, zwang ein Lächeln auf sein Klassenprimusgesicht und schlängelte sich zu zwei Offizieren durch, die er kannte.
Arthur Nebe, der Chef der Kriminalpolizei,
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