Der Pakt
Tod hatte Heydrich ihm die Akte über Irenes jüdischen Onkel ausgehändigt. Aber hatte Heydrich womöglich eine Kopie behalten, die sich jetzt im Besitz der Gestapo befand? Und hatte ihn die Gestapo vielleicht im Verdacht, selbst Jude zu sein?
Berg war ein germanisches Namenselement, aber es ließ sich nicht leugnen, dass nicht wenige Juden diese Silbe verwendet hatten, um ihre hebräischen Namen zu germanisieren. Wollten sie ihm das nachweisen? Wollten sie ihn durch die bloße Unterstellung fertig machen? Schließlich hatte die Gestapo bereits Heydrich zu erledigen versucht, indem sie behauptete, der »blonde Moses« sei in Wirklichkeit Jude. Nur dass sich diese Behauptung in Heydrichs Fall als zur Hälfte wahr erwiesen hatte.
Nach dem Attentat auf Heydrich hatte Himmler Schellenberg eine Akte gezeigt, aus der hervorging, dass Heydrichs Vater, ein Klavierlehrer aus Halle, Jude gewesen war. (In Halle hatte er den Spitznamen Isidor Suess getragen.) Schellenberg hatte dieses Verhalten seltsam gefunden, bis er dann begriffen hatte, was ihm Himmler damit zu verstehen geben wollte: Dass er seinen bisherigen Chef vergessen solle und seine ganze Loyalität fortan allein dem Reichsführer-SS zu gelten habe. Da sein eigener Vater Klavierbauer war, hielt es Schellenberg nicht für abwegig, dass irgendjemand bei der Gestapo, der ihm seine schnelle Karriere – mit dreiunddreißig bereits Brigadeführer der SS – neidete, sich die Mühe gemacht hatte, seine rassische Abstammung zu durchleuchten.
Er wollte Nebe eine Frage stellen, aber der Berliner schüttelte nur den Kopf und schaute über Schellenbergs Schulter hinweg.
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Und als Schellenberg sich umdrehte, sah er einen untersetzten Mann mit Stiernacken und kahl geschorenem Schädel.
»Mein Lieber«, begrüßte ihn der Hinzugekommene wie einen alten Freund. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich wollte Sie fragen, ob es irgendetwas Neues von Kaltenbrunner gibt.«
»Er ist krank«, sagte Schellenberg.
»Ja, ja, aber was fehlt ihm denn? Woran leidet er?«
»Die Ärzte sagen, es ist eine Phlebitis.«
»Phlebitis? Und was ist das auf Deutsch?«
»Venenentzündung«, sagte Schellenberg, der möglichst schnell weg wollte, weil ihm die familiäre Art Richard Glücks’
zuwider war. Er war dem Mann erst einmal begegnet, aber diesen Tag würde er nicht so leicht vergessen.
Richard Glücks war Inspekteur der Konzentrationslager.
Schon bald nach seiner Ernennung zum Chef des SD hatte Kaltenbrunner darauf bestanden, Schellenberg zur Besichtigung eines dieser Sonderlager mitzunehmen. Schellenberg sah in das gerötete Gesicht des Brigadeführers Glücks, der jetzt über die Ursachen von Kaltenbrunners Krankheit zu spekulieren begann, und erinnerte sich nur zu lebhaft an jenen schrecklichen Tag in Mauthausen: Die geifernden Schäferhunde, den Geruch brennender Leichen, die sadistische Grausamkeit der Offiziere, die sich als Herrenmenschen gerierenden Aufseher, die jede Freiheit hatten, Häftlinge zu misshandeln und zu töten, die fernen Schüsse und den Gestank aus den Häftlingsbaracken.
Aber vor allem erinnerte sich Schellenberg an die Sauferei. Alle, die an der Lagerbesichtigung teilgenommen hauen – er selbst eingeschlossen – waren betrunken gewesen. Natürlich machte der Alkohol alles leichter. Das Abschalten der Empfindungen.
Das Foltern und Töten. Das Durchführen grässlicher Experimente an Häftlingen. Der Alkohol machte es leichter, ein Lächeln aufzusetzen und die SS-Kameraden zu ihrer erfolgreichen Arbeit zu beglückwünschen. Kein Wunder, dass 56
Kaltenbrunner Alkoholiker war. Wenn er selbst öfter als einmal ein Sonderlager hätte besuchen müssen, dachte Schellenberg, hätte er sich längst totgesoffen. Das einzig Erstaunliche war, dass nicht alle SS-Leute in den Sonderlagern so schwer trunksüchtig waren wie Ernst Kaltenbrunner.
»Ich bin nicht oft in Berlin«, sagte Glücks. »Ich habe natürlich ständig im Osten zu tun. Also sagen Sie Ernst doch bitte, falls Sie ihn sehen, ich hätte mich nach ihm erkundigt.«
»Ja, mache ich.« Erleichtert drehte Schellenberg Glücks den Rücken, nur um sich einem Mann gegenüberzusehen, den er nicht minder verabscheute: Joachim von Ribbentrop. Er wusste, dass der Außenminister wusste, in welch zentraler Rolle er am Versuch des ehemaligen Unterstaatssekretärs Martin Luther, Ribbentrop beim Reichsführer-SS zu diskreditieren, beteiligt gewesen war. Daher rechnete er damit, die kalte Schulter gezeigt zu bekommen. Doch
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