Der Pakt
schon am frühen Morgen?«
Zu seiner Erleichterung merkte Schellenberg, dass Himmlers Rüffel nicht nur ihm galt, sondern noch etlichen anderen rauchenden Offizieren. Er sah sich nach einem Aschenbecher um.
59
»Meinetwegen können Sie sich mit Nikotin umbringen, aber ich habe etwas dagegen, dass sie mich damit vergiften. Wenn meine Kehle die nächsten Stunden nicht durchhält, werde ich Sie zur Verantwortung ziehen.«
Seine Reitstiefel klackerten laut über den blanken Parkettbo-den, als Himmler zum Podium marschierte. Schellenberg rauchte seine Zigarette in Ruhe zu Ende und dachte über die vor ihm liegende Zumutung einer dreieinhalbstündigen Himmler-Rede nach. Dreieinhalb Stunden waren 210 Minuten, da brauchte man schon etwas Stärkeres als eine Tasse Kaffee und eine Zigarette.
Schellenberg knöpfte die Brusttasche seines Umformrocks auf, zog ein Pillendöschen heraus und entnahm ihm eine Benzedrin-Tablette. Er hatte das Benzedrin ursprünglich gegen seinen Heuschnupfen genommen, dann aber rasch die wach machende Wirkung festgestellt. Meistens nahm er die Tabletten in Situationen, die mit Vergnügen und nicht mit Arbeit zu tun hatten. In Paris hatte er reichlich Gebrauch davon gemacht. Aber eine 210-Minuten-Rede Himmlers war eine Art Notfall, also spülte er die Tablette schnell mit dem letzten Rest Kaffee hinunter und ging auf seinen Platz.
Um die Mittagszeit zog schließlich ein starker Essensgeruch aus den Kellerküchen des Schlosses in den Goldenen Saal herauf und folterte die Nasen und Mägen der zweiundneunzig SS-Offiziere, die auf das Ende der Himmler-Rede warteten.
Schellenberg sah auf seine Armbanduhr. Der Reichsführer hatte jetzt 150 Minuten gesprochen, was bedeutete, dass es noch eine ganze Stunde so weitergehen würde. Gerade sprach er über die Tapferkeit als eine der Tugenden des SS-Mannes.
»Ein Teil der Tapferkeit ist auch der Glaube. Und hier, meine Gruppenführer, wollen wir uns von niemandem auf der Welt übertreffen lassen. Der Glaube gewinnt Schlachten und der Glaube schafft den Sieg. Und Menschen, die Pessimisten sind oder den Glauben verlieren, die wollen wir in unseren Reihen 60
nicht haben. Ganz gleich, wo der einzelne auch ist … Leute, die so schwach sind, dass sie keinen Glauben mehr haben, die tun wir von uns weg, die wollen wir nicht haben …«
Schellenberg sah sich um und fragte sich, wie viele seiner Mitoffiziere wohl noch die Art Glauben besaßen, die Siege errang. Seit Stalingrad gab es kaum noch Anlass zum Optimismus, und jetzt, da irgendwann im nächsten Jahr die Landung der Alliierten in Europa erwartet wurde, dachten viele Offiziere hier im Goldenen Saal wohl weniger an den Sieg als daran, der Vergeltung durch alliierte Militärgerichte nach dem Ende des Krieges zu entgehen. Und doch glaubte Schellenberg, dass der Sieg immer noch möglich war. Wenn Deutschland den Alliierten einen entscheidenden Schlag zufügen konnte, mit dem gleichen Überraschungsmoment wie damals die Japaner in Pearl Harbor, dann ließ sich das Kriegsgeschehen noch wenden. Hatte sich ihm nicht gerade durch Ciceros Informationen eine solche Gelegenheit eröffnet? Wusste er nicht bereits, dass ab Sonntag, dem 21. November, Roosevelt und Churchill fast eine Woche in Kairo sein würden? Und danach bis Samstag, den 4. Dezember, mit Stalin in Teheran?
Schellenberg schüttelte verwundert den Kopf. Was in aller Welt konnte sie bewogen haben, ausgerechnet Teheran als Konferenzort zu wählen? Wahrscheinlich hatte Stalin darauf bestanden, dass die anderen beiden zu ihm kamen. Sicher hatte er ihnen die Ausrede aufgetischt, dass er in der Nähe seiner Fronttruppen bleiben müsse, aber Schellenberg fragte sich, ob Churchill und Roosevelt wussten, warum Stalin wirklich auf Teheran insistiert hatte. Schellenbergs Quellen beim NKWD
zufolge hatte Stalin eine krankhafte Angst vor dem Fliegen. Ein Langstreckenflug nach Neufundland (dem Ort, den Churchill und Roosevelt für das Treffen favorisiert hatten) oder auch nur nach Kairo war für ihn ebenso undenkbar wie der Kauf eines Sitzes an der New Yorker Börse. Es sprach alles dafür, dass Stalin Teheran gewählt hatte, weil er die Strecke dorthin 61
überwiegend in seinem gepanzerten Zug zurücklegen konnte und nur das kurze letzte Stück fliegen musste.
Er dachte, dass die Großen Drei nie auf Teheran verfallen wären, wenn »Unternehmen Franz« jemals stattgefunden hätte.
Bei diesem Gemeinschaftsunternehmen des Kampfgeschwaders 200 der Luftwaffe und
Weitere Kostenlose Bücher