Der Palast
ist alles in Ordnung, ehrenwerte Fürstin. Ihr seid in Sicherheit.«
»Ha!«, schrie sie und schwang das Schwert. »Dir werde ich’s zeigen!«
Yanagisawa duckte sich gerade noch rechtzeitig, um einem Schlag auf die Stirn auszuweichen. Keisho-in hatte offenbar nicht verstanden, was er gesagt hatte, und hielt ihn für einen der Entführer. Ihre wässrigen Augen funkelten; ein grimmiges Grinsen entblößte ihre verfaulten Zähne. Wieder sauste das Schwert durch die Luft.
»Ich bin Kammerherr Yanagisawa!«, rief er und wich einem weiteren Hieb aus. »Ich bin gekommen, um Euch zu retten!«
Das hatte er jedenfalls vor, wenn die Fürstin ihn nicht zuvor tötete. Keisho-in wirbelte herum und stolperte. Yanagisawa packte sie von hinten und schlang ihr die Arme fest um die Taille. Der Kammerherr und die Fürstin taumelten und schwankten, als führten sie einen grotesken Tanz auf.
»Lass mich los, du Schurke!«, schrie Keisho-in.
»Helft mir!«, befahl Yanagisawa seinen Männern.
Reiko, Sano und die beiden Ermittler legten am Ufer an und stiegen aus dem Boot. Sano befahl den Soldaten in den anderen Booten, sich auf die Suche nach Midori zu machen. Reiko wies Sano, Inoue und Arai den Weg zum Drachenkönig. Im Wald, der den Palast umgab, wurden Gefechte zwischen den Rettern und den Entführern ausgetragen. Kriegsschreie und das Rasseln und Klirren der Stahlklingen hallten durch die Nacht. Bei dem Gedanken, in das Verlies zurückzukehren, verkrampfte sich Reikos Magen vor Angst.
Sie eilten durch das Portal der Palastruine, die vollkommen verlassen zu sein schien. Die Entführer hatten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut und kämpften um ihr Leben. Während Reiko Sano und dessen Ermittler die Treppe hinaufführte, betete sie im Stillen, der Drachenkönig möge tot an der Stelle liegen, wo sie ihn verlassen hatte. Wenn er tot war, konnte er ihr nichts mehr zuleide tun. Und er konnte Sano nicht verraten, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte.
Sie erreichten das erste Stockwerk. Weihrauchduft drang aus dem Schlafgemach des Drachenkönigs. Reiko zeigte auf die Tür. »Dort.«
Sano und seine Ermittler zogen ihre Schwerter. Vorsichtig betrat Inoue als Erster das Gemach. Reiko und Sano folgten ihm, Ermittler Arai auf den Fersen. Im Vorzimmer befand sich niemand. Kampflärm drang über den Balkon in den Palast. Sie traten durch die Trennwand.
Der Drachenkönig kniete vollständig bekleidet im Schlafgemach vor dem Traueraltar mit dem brennenden Weihrauch und den Kerzen. Reiko war bestürzt. Dann drehte der Drachenkönig sich um. Sein Gesicht war wund und zerschlagen. Aus seiner Nase rann Blut auf seinen Mund. Er betrachtete Sano und die Ermittler argwöhnisch, doch als er Reiko sah, kehrte das schwelende Feuer in seine Augen zurück.
»Anemone«, murmelte er.
Sano sah Reiko fragend an.
»Er hält mich für seine tote Mutter«, erklärte Reiko ihm und hoffte, weitere Erklärungen mögen ihr erspart bleiben.
Der Dolch des Drachenkönigs lag auf dem Altar. Er nahm die Waffe in die Hand, doch Sano sprang vor und richtete die Spitze seines Schwerts auf ihn.
»Legt die Waffe nieder, Dannoshin -san «, befahl er. »Ihr seid verhaftet.«
Der Drachenkönig schenkte Sano keine Beachtung. Die Ermittler, die den sōsakan-sama begleiteten, schien er gar nicht zu sehen. Er drehte sich zu Reiko um. Seine geöffnete Kleidung entblößte seinen nackten Oberkörper und das Lendentuch. »Als Ihr mir sagtet, dass unsere gemeinsame Zeit bald zu Ende sei, meine Liebste, hattet Ihr Recht«, begann er. »Die dämonischen Kräfte rings um uns haben mich bestürmt. Jetzt muss ich seppuku begehen, um der unwürdigen Gefangenschaft zu entfliehen.«
Reiko sah zwei kleine Schnittwunden in seinem Unterleib. Er hatte sich bisher nur unbedeutende Wunden zugefügt und nicht den Mut aufgebracht, rituellen Selbstmord zu begehen. Der Dolch mit der roten Spitze bebte in seiner Hand. Sano und die Ermittler verharrten und ließen den Drachenkönig nicht aus den Augen.
»Bevor ich sterbe, muss ich dir etwas beichten, Anemone«, gestand er mit zitternder Stimme. »Seit zwölf Jahren trage ich ein Geheimnis in mir, das mir eine schreckliche Last ist. Ich muss mein Gewissen erleichtern.« Sein flehender Blick bat um Reikos Aufmerksamkeit und Mitleid.
»Du musst ihm nicht zuhören«, sagte Sano zu Reiko.
Obwohl Reiko den Raum am liebsten auf der Stelle verlassen hätte, damit der Drachenkönig für immer aus ihrem Leben verschwand, fühlte sie sich
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