Der Palast
Tiefe sank. Das Wasser rauschte in ihren Ohren. Undurchdringliche Schwärze umhüllte sie, und sie kämpfte verzweifelt das Verlangen nieder, Luft zu holen. Das Herz schlug wild in ihrer Brust. Verzweifelt trat sie mit den Beinen im Wasser und schlug mit den Armen um sich, um endlich aufzutauchen. Hände und Füße verfingen sich in ihrem langen Haar, den Ärmeln und Röcken.
Es war unfassbar, dass Fürstin Yanagisawa sie tatsächlich vom Turm gestoßen hatte! Nachdem sie so viel zusammen durchgemacht hatten, hatte der Groll dieser unberechenbaren Frau wieder einmal über ihre Freundschaft gesiegt.
Endlich durchbrach Reikos Kopf die Wasseroberfläche. Gierig atmete sie die kalte Nachtluft. Das Licht des Mondes und der Sterne funkelten in dem Wasser, das über ihr Gesicht rann. Gewaltig und bedrohlich ragte der Turm über ihr auf. Immer wieder tauchte sie unter. Bei dem verzweifelten Kampf, nicht zu ertrinken, schwankte die Welt um sie herum. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, schwimmen zu können! Doch ihre hektischen Bewegungen brachten sie keinen Zentimeter näher ans Ufer. Als ihre Kräfte allmählich erlahmten, sah sie die winzige Gestalt der Fürstin Yanagisawa hoch oben auf dem Turm stehen.
»Hilfe!«, schrie Reiko.
Die Fürstin verschwand aus ihrem Blickfeld. Reiko wäre lieber mit jedem anderen Menschen auf der Welt eingesperrt gewesen als mit dieser Verrückten. Sie hatte den Drachenkönig bezwungen und war aus dem Palast entflohen, um dann von einer Wahnsinnigen angegriffen zu werden, der sie aufgrund der Umstände gezwungenermaßen vertraut hatte. Würgend und hustend, kämpfte Reiko ums nackte Überleben. Sie fühlte sich so hilflos wie nie zuvor. Wenn kein Wunder geschah, würde sie ertrinken, und ihre Seele würde sich mit dem Geist des wahren, legendären Drachenkönigs in seinem Palast auf dem Grund dieses Sees bis in alle Ewigkeit vereinen.
»Da ist jemand vom Turm gesprungen!« Als Sano gemeinsam mit den Ermittlern Inoue und Arai den See überquerte, lehnte er sich über den Bug, um den Turm deutlicher sehen zu können. Von dessen Spitze war die Gestalt mit einem schrillen Schrei in die Tiefe gestürzt. Sano spähte auf das aufgewühlte Wasser in der Nähe des Turms, wo er den Aufprall gehört hatte.
Sein sechster Sinn trieb den sōsakan-sama zu größter Eile an. Sano konnte seine Erregung kaum zügeln, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.
»Rudert da hin«, befahl Sano und zeigte auf die Stelle, an der Wasser in die Höhe spritzte.
Inoue und Arai folgten dem Befehl. Sie entfernten sich von den anderen Booten, die aufs Ufer zuhielten. Als sie die Stelle erreichten, wo die Gestalt ins Wasser gestürzt war, war diese bereits unter die Oberfläche gesunken. Sano streckte die Arme ins Wasser, bis seine tastenden Finger langes Haar zu fassen bekamen. Er zog kräftig daran. Der Kopf einer Frau tauchte auf. Augen und Mund weit aufgerissen, blinzelte sie und rang gierig nach Luft. Ihre Arme, die sich im aufgeblähten Stoff ihres gemusterten Kimonos verfangen hatten, schlugen im Reflex durchs Wasser, so tief saß ihr Schock.
»Reiko -san !«, rief Sano.
Als Reikos Blick sich klärte und sie ihren Gemahl erkannte, klammerte sie sich weinend an Sanos Hand. Mit vereinten Kräften zogen die Ermittler die triefend nasse Frau aus dem Wasser ins Boot. Überglücklich drückte Sano Reiko an seine Brust.
»Den Göttern sei Dank! Du lebst!«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor innerer Bewegung.
Die von Kälte bibbernde Reiko schluchzte vor Erleichterung. »Es ist ein Wunder …«
»Es war gefährlich, vom Turm zu springen. Du hättest ertrinken können.«
»Ich bin nicht gesprungen«, erwiderte Reiko mit klappernden Zähnen. »Sie hat mich gestoßen.«
Sano zog seinen Umhang aus und legte ihn über Reikos Schultern. »Jemand hat dich vom Turm gestoßen? Wer?«
»Fürstin Yanagisawa«, erwiderte Reiko mit bebender Stimme. »Damit hat sie mir sogar einen Gefallen erwiesen … aber das weiß sie nicht.«
»Was redest du da?« Sano fürchtete, der lebensgefährliche Sturz hätte seiner Gemahlin den Verstand geraubt.
»Schon gut … vergiss es. Wir müssen Fürstin Keisho-in und Midori retten.«
Ein Boot näherte sich ihnen. Kammerherr Yanagisawa rief: » Sōsakan Sano! Was ist geschehen?« Als er Reiko erblickte, riss er erstaunt die Augen auf. »Wie ich sehe, habt Ihr Eure Gemahlin gefunden.« Er wandte sich Reiko zu: »Wo ist Fürstin Keisho-in?«
»Wir wurden getrennt«, erwiderte
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