Der Palast
Mauer.
Reiko schwang sich durch das Loch im Boden aufs Dach. Ota, der ihr folgte, bekam einen Zipfel von Reikos Röcken zu fassen, doch Reiko riss sich los und rannte über den mit Schotter übersäten Boden. Taumelnd blieb sie am Rand des Daches stehen. Dann wirbelte sie herum und bedrohte Ota mit dem Schwert.
Der Samurai brach in Gelächter aus und rief: »Wenn Ihr lieber sterben wollt, als Euch zu ergeben, soll es mir recht sein.« Er zog sein Schwert.
Fürstin Yanagisawa war vor Angst wie gelähmt. Doch sie begriff, dass sie selbst Reiko in diese missliche Lage gebracht hatte. Jetzt würde Ota sie töten. Entsetzt von dem Gedanken, ihre einzige Freundin zu verlieren, beobachtete Fürstin Yanagisawa, wie Reiko das Schwert schwang. Ota wehrte die Schläge ab. Das Klirren der Klingen trieb Reiko bedrohlich nahe an den Rand des Turms. Dicht am Abgrund wirbelten die beiden Gegner umeinander, fintierten, täuschten an, stachen und schlugen mit den Klingen nach dem Gegner. Das fahle Licht des Mondes fiel gespenstisch auf Reikos entschlossene Züge. Obwohl sie geschickt und mutig kämpfte, gelangen Ota weitaus mehr Schläge als ihr. Sie hatte große Mühe, seine wuchtigen Hiebe abzuwehren oder ihnen blitzschnell auszuweichen. Ota, der Reiko kräftemäßig weit überlegen war, hoffte darauf, dass der Kampf Reiko bald erschöpfen würde.
Fürstin Yanagisawa wusste, dass nur sie allein Reiko helfen konnte. Sie nahm einen Holzbalken in beide Hände. Als Ota sich ihr näherte, schwang sie den Balken mit aller Kraft. Er traf ihn in die Kniekehlen und riss Ota den Boden unter den Füßen weg. Ota taumelte und flog brüllend durch die Luft. Als er die Arme ausstreckte, um den Aufprall zu mildern, riss Reiko ihr Schwert hoch und schlitzte ihm die Kehle auf. Ota entfuhr ein greller Schrei des Entsetzens. Aus der Wunde spritzte Blut, das im Mondlicht schwarz schimmerte. Dann brach er tot zusammen.
In der jäh einsetzenden Stille wechselten Reiko und Fürstin Yanagisawa über die Leiche hinweg einen Blick. Das Schwert entglitt Reikos Händen. Fassungslos rang sie nach Atem. Nach dem erbitterten Kampf hatte sie nicht mit einem so leichten Sieg gerechnet. Fürstin Yanagisawa ließ den Balken fallen. Schluchzend vor Erleichterung, fielen die beiden Frauen sich in die Arme.
»Ihr habt mir das Leben gerettet«, sagte Reiko. »Tausend Dank!«
Fürstin Yanagisawa genoss die körperliche Nähe zu ihrer Freundin. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, wirklich geliebt zu werden. Plötzlich aber löste Reiko sich jäh aus der Umarmung.
»Seht doch!«, rief sie und zeigte auf den See.
Die Lichter auf der Wasseroberfläche umgaben die Insel wie eine Kette aus leuchtenden Perlen. Fürstin Yanagisawa und Reiko blickten gebannt aufs Wasser. Als die Lichter sich näherten, erkannten sie zahlreiche kleine, mit Männern besetzte Boote. Trotz der Schussdetonationen und der lauten Schreie auf der Insel hörten sie das Platschen der Ruder im Wasser.
»Unsere Retter sind da!« Reiko eilte an den Rand des Turms. Überglücklich schwenkte sie die Arme. »Wir sind gerettet!«
Fürstin Yanagisawas Glücksgefühl verflog. Jetzt, da die Rettung nahte, stürmten unterschiedliche Empfindungen auf sie ein. Sie wollte unbedingt ihre Tochter wiedersehen; zugleich aber ängstigte sie der Gedanke, nach Edo zurückzukehren. Denn dort erwartete sie der Schmerz ihrer unerwiderten Liebe zum Kammerherrn. Dort würde Reiko zu ihrem Gatten zurückkehren, der sie vergötterte, und zu ihrem hübschen, gesunden Sohn. Dort würde Reiko sie nicht mehr brauchen.
Eifersucht überkam Fürstin Yanagisawa. Reiko, die noch immer am Rand des Turmdaches stand, drehte sich um. Ihr hübsches, fröhliches Gesicht entfachte zusätzlich den stets im Herzen der Fürstin lodernden Zorn. Von einem unwiderstehlichen Drang erfasst, sprang Fürstin Yanagisawa vor und stieß Reiko in den Abgrund.
Reiko stieß einen gellenden Schrei aus, als sie den Halt verlor und rücklings vom Turm stürzte. Sie warf die Arme in die Luft und versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Den Bruchteil einer Sekunde schwebte das von hämischer Freude verzerrte Gesicht der Fürstin über ihr. Dann fiel Reiko ins Leere. Ihre Arme und Beine schlugen hektisch durch die Luft. Die Mauer des Turms raste an ihren Augen vorbei. Dann schlug das kalte Wasser des Sees über ihr zusammen.
Der wuchtige Aufprall auf der Wasseroberfläche nahm ihr den Atem. Die kalten Fluten überschwemmten Reiko, als sie in die
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