Der Palast
standen die Fenster und Türen der Gebäude weit offen, um den kühlen Windhauch einzulassen; schwitzende Städter drängten sich auf Marktplätzen, auf denen die Waren in der Sonnenhitze dünsteten. Aus Gassen, in denen es nach Abwässern stank, wehte ein warmer, verpesteter Hauch; beißende Dämpfe machten das Atmen schwer, und Moskitoschwärme summten träge in der schwülheißen Luft. Auf den Straßen, die aus der Stadt hinausführten, wimmelte es von Pilgern, die zu fernen Tempeln unterwegs waren, sowie von reichen Städtern, die zu ihren Sommervillen im kühlen Hügelland flüchteten.
Die Sonne brannte auch auf die zahllosen Giebel und Dächer des Palasts zu Edo hinunter. Doch die Privatgemächer von Fürstin Keisho-in, der Mutter des Shōgun, lagen im kühlenden Schatten hoher Bäume. Hier hatten sich auf einer Veranda drei Damen eingefunden.
»Warum Fürstin Keisho-in uns wohl herbestellt hat?«, sagte Reiko, die Gemahlin Sano Ichirōs, des sōsakan-sama des Shōgun, des höchst ehrenwerten Ermittlers von Ereignissen, Gegebenheiten und Personen. Reiko blickte über das Geländer der Veranda zu ihrem kleinen Sohn Masahiro, der im Garten spielte. Lachend rannte er mit tapsigen Schritten über den üppigen Rasen um einen Teich herum, dessen Wasser grün und schleimig war von Algen, vorbei an Blumenbeeten und blühenden Sträuchern.
»Was sie auch wünscht, ich hoffe, es dauert nicht lange«, sagte Midori, eine einstige Hofdame Keisho-ins und enge Freundin Reikos, die vor sechs Monaten Hirata geheiratet hatte, den obersten Gefolgsmann Sanos. Nun verschränkte Midori die Hände auf ihrem gewölbten Leib. Ihre Schwangerschaft war bereits weit fortgeschritten. Reiko hegte die Vermutung, Midori und Hirata hatten das Kind lange vor der Hochzeit gezeugt.
»Diese Hitze«, seufzte Midori. »Hoffentlich kann ich bald nach Hause und mich hinlegen.« Ihr junges, hübsches Gesicht war gedunsen; ihre geschwollenen Beine und Füße konnten ihr Gewicht kaum noch tragen. Sie zupfte an der Stoffbinde, die sie unter ihrem malvenfarbenen Kimono um den Leib trug und die dafür sorgen sollte, dass das Kind nicht zu groß wurde, um die Geburt zu erleichtern. »Dieses Ding hilft kein bisschen. Mein Kind scheint ein Riese zu werden, so sehr ist mein Leib angeschwollen.« Mit unbeholfenen Schritten ging Midori in einen schattigen Winkel der Veranda und setzte sich schwerfällig.
Reiko strich eine Haarsträhne zur Seite, die sich aus ihrer kunstvollen Hochfrisur gelöst hatte und auf ihrer feuchten Stirn klebte. Auch sie schwitzte in ihrem meerblauen Seidenkimono, und auch sie hatte den Wunsch, zu Hause zu sein. Reiko war eine leidenschaftliche Ermittlerin, die Sano bei dessen Verbrecherjagden half; jederzeit konnte sich ein neuer Fall ergeben und ihre Mitarbeit erforderlich machen. Doch Fürstin Keisho-in hatte sie angewiesen, sich bei ihr einzufinden, und den Befehlen der Mutter des Shōgun musste auch Reiko nachkommen, mochte ihr Wunsch, lieber in einem neuen Fall zu ermitteln, noch so groß sein.
Fürstin Yanagisawa, die Gemahlin des Kammerherrn und Stellvertreters des Shōgun, stand einige Schritte von Reiko und Midori entfernt. Die Fürstin war eine stille, farblose und verschlossene Frau, ungefähr zehn Jahre älter als die vierundzwanzigjährige Reiko. Stets trug sie Kleidung in gedeckten Farben, als wollte sie ja keine Aufmerksamkeit erregen. Der Fürstin mangelte es völlig an weiblicher Schönheit: Ihr Gesicht war lang und wenig anziehend, die Augen schmal, die Lippen breit, die Nase flach.
Nun kam sie zu Reiko hinüber. »Ich bin ja so froh, dass ich eingeladen wurde«, sagte sie mit ihrer leisen, heiseren Stimme. »So habe ich Gelegenheit, wieder mit Euch zusammen zu sein.«
Sie lächelte und blickte Reiko aus ihren schmalen Augen an. Reiko unterdrückte ein Schaudern, das diese Frau jedes Mal bei ihr hervorrief. Fürstin Yanagisawa war eine Einzelgängerin, die sich nur selten aufs gesellschaftliche Parkett wagte. Nie hatte sie Freundinnen gehabt – bis sie im vergangenen Winter Reiko kennen lernte. Seither hatte sie immer wieder Reikos Nähe gesucht, mit einer Hartnäckigkeit, die verriet, wie einsam ihr Leben war und wie sehr sie sich nach Gesellschaft sehnte. Seit sie sich kannten, hatte die Fürstin Reiko fast täglich besucht oder sie zu sich eingeladen, oder sie hatte ihr Briefe geschickt, wenn familiäre Angelegenheiten ein persönliches Treffen unmöglich machten, oder wenn Reiko bei Sanos Nachforschungen
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