Der Pate von Bombay
schon den ganzen Tag. Puh, Nikki, das macht mich wahnsinnig. Dieses bedeutungsvolle Schweigen - jeder soll verstehen, was damit gemeint ist, und jeder soll tun, was sie will. Das kann sie wirklich gut. Jeder tut tatsächlich, was sie will.«
Da verstummte Prabhjot Kaur ebenfalls. Auch sie hatte schon kleine Stiche des Grolls gegen ihre Mutter verspürt, einmal, als sie nicht mit zum Schulpicknick durfte, oder als sie nur noch den Rest aus einer Schüssel mit süßem Reisbrei bekommen hatte, weniger als ihre Brüder. Solche Regungen verflüchtigten sich indes Tag für Tag in der Wärme, die ihre Mutter verströmte, in der alles umhüllenden mütterlichen Umarmung, die man spürte, sobald man durchs Tor trat, in den weiß gestrichenen Halbsteinen, mit denen sie den Weg eingefaßt hatte, im Spitzenbesatz der Tischdecken im Wohnzimmer. Doch als Prabhjot Kaur den seltsam blechernen, verächtlichen Unterton in Navneet-bhenjis Stimme hörte, wußte sie plötzlich, daß es zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mata-ji und ihr, Prabhjot Kaur, eine Kluft gab, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Ihr wurde ein wenig übel, und sie fühlte sich sehr allein.
Navneet-bhenji öffnete die Augen. Mit noch verschleiertem, fernem Blick sah sie Prabhjot Kaur gerade ins Gesicht. Dann zwinkerte sie zweimal. »Are, was schaust du so, Bachcha?« fragte sie. »Hab keine Angst. Sie kann einen zur Weißglut treiben, aber irgendwann gehst du auch fort von hier.«
Prabhjot Kaur mußte zweimal schlucken, ehe sie sprechen konnte. »Fort?«
»Ja.« Navneet-bhenji zog sie an sich, bettete sie in ihre Armbeuge und flüsterte ihr ins Haar: »Weißt du es nicht? Ein Mädchen wird in einem Haus geboren, aber zu Hause ist sie woanders. Dieses Haus hier gehört dir nicht. Dein Zuhause ist woanders.«
Damit reckte sie sich und stieß einen wohligen Seufzer aus, und Prabhjot Kaur spürte - vom Kopf bis in die Zehen - die Lebensfreude ihrer Schwester, spürte, wie gespannt sie auf die Zukunft war, wie froh darüber, wegzugehen, fort zu sein. Und doch empfand Prabhjot Kaur nichts als ein unerklärliches Gefühl des Verlustes, drohenden Unheils. Und das rauhe Schrubben des Topfes mit Asche vermischte sich mit dem Pulsschlag ihrer Schwester unter ihrem Ohr.
Sie zog sich Navneet-bhenjis Dupatta über den Kopf und versuchte zu schlafen. Als anderthalb Stunden später Mani nach Hause kam und ihre vollgepackte Schultasche auf den Boden warf, wußte Prabhjot Kaur, daß sie Ram Pari und ihre Kinder gesehen hatte, die noch immer am Tor lagerten. Mani war empört und kampfbereit, doch unter dem Blick, den Mata-ji ihr mit gerunzelter Stirn und hervortretenden Augen zuwarf, verlor selbst sie den Mut. Leise kam sie heran, setzte sich neben Prabhjot Kaur und pulte wütend an einem Zehennagel. »Wir müssen warten, bis Papa-ji kommt«, sagte sie.
Doch Papa-ji war nicht in der Stimmung für Streitereien. Er legte sich müde hin, ein Polster im Rücken, und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. Mani trug ihm ihr Anliegen vor, und sie machte es gut, in wenigen knappen, präzisen Sätzen, aber Papa-ji schien mit den Gedanken woanders. »Schwierige Sache«, sagte er und bedeckte seine Augen mit den Händen. Mani beugte sich vor, die Finger zu einer Art Netz verschlungen. »Schwierige Sache«, wiederholte er und stand dann auf. Er ging in sein Zimmer, und es war offensichtlich, daß er schon nicht mehr an Ram Pari und ihre Probleme dachte. Mani richtete sich auf und hob resigniert die Hände. Prabhjot Kaur trommelte mit den Fersen auf den Boden. Was tun, was tun? Die Stille hielt an, weitete sich aus. Zur Abendbrotzeit kam Ram Pari wieder ins Haus, um die dünnen Brotfladen zuzubereiten, und Prabhjot Kaur hörte nichts anderes mehr als das dumpfe Klatschen ihrer Hände auf dem Mehl. Selbst die Brüder aßen schweigend. Alle außer Navneet-bhenji schauten besorgt drein. Als der Tisch abgeräumt war, knabberte Mata-ji an einem Stückchen Gur, das sie mit zwei Fingern über der hohlen linken Hand hielt. Ram Pari kam herein und lehnte sich an die Wand, die Hand auf der Hüfte, die Füße gekreuzt. »Bibi-ji«, sagte sie, »ich gehe jetzt.«
»Dann geh«, sagte Mata-ji, und Prabhjot Kaur spürte, wie sich genau in der Mitte ihrer Brust etwas zusammenzog und wieder löste.
Als Ram Pari schon halb über den Hof war, rief Mata-ji: »Wo willst du hin?«
Prabhjot Kaur stand ganz still da, ihre Schultern schmale, dunkle Rechtecke vor der mondbeschienenen weißen Hauswand.
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