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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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festhalten und sie dann unbarmherzig in die weite Welt hinausschicken würde oder nicht. Im Haus schnitt Ram Pari Zwiebeln, an Mata-jis Händen klebte dicker Besan, und in der Pfanne brutzelten laut die Pakoras. Die beiden Frauen saßen einträchtig beieinander und klatschten über die Witwe vier Häuser weiter, deren Sohn auf die schiefe Bahn geraten und dem Alkohol verfallen war. Prabhjot Kaur ging den ganzen Abend voller Angst auf Zehenspitzen umher. Sie wagte nicht, Mata-ji auf die eine Nacht anzusprechen, wollte sie nicht daran erinnern und mußte doch die ganze Zeit daran denken. Als sie aber vor dem Schlafengehen den Kopf aus dem Fenster streckte, war die Familie noch da, eine kreisförmige Ansammlung im Dunkeln schimmernder Köpfe. Das alles war sehr verwirrend, fand Prabhjot Kaur, während sie auf den Schlaf wartete, den Kopf voller Pläne. Die Menschen vertraten Standpunkte, sie äußerten Meinungen, sie gaben wilde Laute von sich, Entscheidungen aber fielen oft, wenn alle schwiegen, und was nicht ausgesprochen wurde, war wichtiger als das Gesagte. Die Welt wurde mit jedem Tag komplizierter.
    Am darauffolgenden Nachmittag, einem Freitag, setzte Prabhjot Kaur die Kinder in Dreierreihen hin, die kleinen vorn, die größeren hinten, und begann mit dem Punjabi-Alphabet. »Ooda, aida«, ließ sie sie im Chor aufsagen, und als Tafel diente ihr ein kaputtes Carrombrett. Sie schrieb die Buchstaben auf die verblaßten Linien des alten Spiels, akkurat wie immer, nicht nur auf Richtigkeit, sondern ebenso auf Schönheit bedacht. Schnell merkte sie, daß die Jüngeren leichter zu unterrichten waren. Meeta und Bimla fanden Gefallen an den Buchstaben, beugten sich, die Zunge zwischen die Lippen gerollt, tief über ihr Papier und malten unbeholfene, aber korrekte Formen. Nimmo dagegen trödelte herum, schaute in die Luft, legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Arm, und zeichnete Buchstaben, die eher zerschmetterten Drachen oder verfilztem Gras glichen als den elegant herabschwingenden, schwanengleichen Lettern, die Prabhjot Kaur haben wollte. Kaum hatte Nimmo den dritten Buchstaben gelernt, vergaß sie den ersten wieder, und als Prabhjot Kaur sie drängte, es noch einmal zu versuchen - »Ooda, aida, Nimmo, ooda, aida« -, bleckte sie ihren Zahn und verzog das Gesicht zu einem Grinsen von solch fröhlicher Dummheit, daß Prabhjot Kaur die Geduld verlor und wünschte, sie besäße die Autorität, ihr eine scharfe kleine Ohrfeige zu versetzen, ähnlich denen, die ihre Zeichenlehrerin so blitzschnell austeilte, daß man vor Schreck erstarrte. Doch Nimmo war und blieb dumm, so zäh und hartnäckig wie alte Wagenschmiere. Und Natwar verschwand ganz. Als Prabhjot Kaur sich an diesem ersten Freitag von der Carromtafel wieder ihren Schülern zuwandte, fehlte einer von ihnen in der mittleren Reihe hinten. Sie stampfte mit dem Fuß auf und lief zur Hausecke, aber er war schon aus dem Tor gerannt und reagierte nicht auf ihr Rufen. Er nahm nie wieder an den Stunden teil, tauchte jedoch immer genau dann auf, wenn sie zu Ende waren.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Ram Pari. »Das ist so einer wie sein Vater. Die anderen kriegen durch dich was in den Kopf.« Sie erschien täglich zwischen dem Nachmittagsabwasch und dem Tee, lehnte sich an die Hauswand und schaute zu, wie ihre Kinder gedrillt wurden. Prabhjot Kaur beobachtete sie, und nach einer Woche kam sie zu dem Schluß, daß Ram Pari auch nicht annähernd dankbar genug war. Denn Ram Pari sparte zwar nicht mit Ermahnungen - »Lernt was, ihr Ganwars!« -, schien das Ganze aber für eine Art Spiel zu halten, und wenn sie bei einer Arbeit, die Mata-ji ihr aufgetragen hatte, Hilfe brauchte, holte sie alle außer dem Baby weg, als sei das Aufhängen und Ausklopfen von Teppichen ungleich wichtiger als die Dreierreihe. Prabhjot Kaurs Brüder heuchelten tiefe Bewunderung, doch als sie anfingen, sie »Adhyaapika 009 -ji« zu nennen, merkte sie, daß sie sich über sie lustig machten, und zeigte ihnen die kalte Schulter. Navneet-bhenji war zu sehr in ihren Träumereien gefangen, um auf Prabhjot Kaurs Unterricht zu achten, und Mani hatte keine Zeit, sich damit zu befassen, weil sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten mußte. Nur Papa-ji begriff, wie wichtig die Sache war. Bis Prabhjot Kaur mit ihrer Klasse oder zumindest einem Teil davon bei der Neunerreihe angelangt war, trank er seinen Abendtee regelmäßig auf einem Stuhl, der schräg zu ihrem Klassenzimmer stand, so daß er den ganzen

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