Der Pate von Bombay
Sie antwortete nicht.
Mata-ji betrachtete das winzige Stück Gur, das noch übrig war, als wollte sie es prüfen, seine Möglichkeiten abschätzen. »Also gut«, sagte sie. »Eine Nacht kannst du bleiben. Hinter dem Haus.«
»Ja, Bibi-ji.«
»Aber nur eine Nacht, hörst du?«
»Ja, Bibi-ji. Eine Nacht.«
Ram Pari eilte davon. Prabhjot Kaur wußte, daß sie schnell außer Hörweite wollte, ehe noch mehr gesagt werden konnte, ein Gedanke, den auch Prabhjot Kaur kaum ertrug. Sie fühlte sich plötzlich schlaff und müde, als hätte sie den ganzen Weg zur Schule und zurück einen schweren Sack auf dem Rücken getragen. Sie warf sich gegen Mata-jis Knie, stand aber gleich wieder auf und ging unaufgefordert zu Bett. Doch trotz ihrer weichen Knie und ihrer bleiernen Lider stieg sie in der Ecke des Zimmers, in dem sie und Mani schliefen, auf einen Hocker und reckte den Kopf schräg zum Fenster hinaus, um das geschäftige Gewimmel dunkler Gestalten hinter dem Haus sehen zu können. Aus zwei Fenstern fiel ein schwacher Lichtschein nach draußen, gerade so viel, daß sie beobachten konnte, wie Ram Pari und ihre Kinder sich häuslich einrichteten. Sie hatten Bündel bei sich - Prabhjot Kaur konnte sich nicht erinnern, sie im Laufe des langen Tages gesehen zu haben - und zogen nun Laken und Lappen, Stoffstreifen und -fetzen daraus hervor, die sie nahe am Haus in einem gezackten Kreis zu einer Wohnstatt auslegten. Prabhjot Kaur machte sich bewußt, daß schon eine bloße Hauswand Unterschlupf bieten konnte. Randvoll mit diesem neuen Wissen legte sie sich schlafen. Sie dachte an »Mein Haus«, an all die Bilder, die sie in ihrem langen Leben davon gemalt hatte. Jetzt wußte sie, daß diese schlichten Rechtecke in gewisser Weise eine Lüge gewesen waren, und irgendwie bereitete es ihr Genugtuung, zurückzublicken und sich vorzustellen, was für ein überaus dummes Kind sie gewesen war.
Als sie am nächsten Nachmittag aus der Schule kam, ging sie als erstes hinter das Haus. Zwei dicke Laken waren an die Hauswand genagelt und auf der anderen Seite mit Ziegelbrocken beschwert, so daß eine Art Halbzelt entstanden war, unter dem das Baby schlummerte. Die anderen Kinder waren über den ganzen Garten verstreut, der noch kein richtiger Garten war; zwei Bäume ragten verloren aus der staubigen Erde auf, und hinten erhob sich eine Mauer. Prabhjot Kaur trat nahe heran und spähte in die Öffnung des Zeltes. Zwei vorstehende Mauersteine waren zu einem kleinen Bord umfunktioniert worden, und darauf stand ein leuchtend buntes Bild, auf dem Sheran-walli-Ma 588 in voller Pracht auf ihrem Tiger ritt. An einem Nagel hing ein Stoffsack mit Kleidern, zwei Jutesäcke an weiteren Nägeln enthielten Getreide. Ganz hinten im schattigsten Winkel des Zeltes schlief auf einem Haufen Säcke das Baby. Prabhjot Kaur erschauerte heftig angesichts dieser kleinen Welt unter den Laken, und ihre Begeisterung über all das Neue sandte eine Gänsehaut ihre Arme hinauf. Sie war voller Bewunderung. Wie geschickt hier aus so wenig so viel gemacht worden war! Wie tapfer das alles war! Sie betrachtete das Baby. Es hatte einen dünnen Armreif am rechten Handgelenk, eine schwarze Schnur mit einem Amulett daran um den linken Arm und einen Penis, der aussah wie ein kleiner Wasserhahn. Prabhjot Kaur widerstand dem Drang, das Kind aufzunehmen, und drehte sich um. Dicht hinter ihr stand, die Hände hinter dem Rücken, das älteste der Mädchen und beobachtete sie. Sie hatte einen sehr langen, schmutzigen, über die Schulter nach vorn hängenden Zopf, wache schwarze Augen und links einen vorstehenden Zahn. Prabhjot Kaur schätzte sie auf ungefähr vierzehn, kam sich aber sofort und ohne jeden Zweifel älter vor als sie. »Wie heißt du?« fragte sie.
»Nimmo«, sagte das Mädchen.
»Kannst du lesen, Nimmo?«
Nimmo schüttelte den Kopf. Nach einer halben Stunde konnte Prabhjot Kaur die Namen der Kinder auswendig - Nimmo, Natwar, Yashpal, Balraj, Ramshri, Meeta, Bimla, Nirmala und Gurnaam, in dieser Reihenfolge - und wußte, daß keines von ihnen lesen konnte, daß keines, auch keiner der Jungen, je ein Schulzimmer von innen gesehen hatte. Prabhjot Kaur war entsetzt: Sie hatte das Analphabetentum des Landes vor sich, in ihrem eigenen Garten. Insgeheim freute sie sich aber auch, denn hier zeichnete sich eine klare Richtung ab, eine wichtige Aufgabe. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Die Frage war nur, wie lange sie bleiben konnten, ob Mata-ji an ihrer Eine-Nacht-Strategie
Weitere Kostenlose Bücher