Der Pate von Bombay
Garten vor sich hatte, in dem bald noch mehr Bäume wachsen würden.
»Das ist eine gute Sache, was du da machst, Beta«, sagte er eines Tages zu ihr. Sie lehnte an seinem Arm und schaute zu, wie er den Tee vorsichtig aus der Tasse in die Untertasse goß, mit sparsamen Bewegungen, wie bei allem, was er tat, ohne auch nur einen Tropfen zu vergeuden. Sein Schnurrbart und sein Kinnbart waren silberweiß, seine Wangen aber von flaumweichem Schwarz bedeckt, und Prabhjot Kaur fand es schön, wie das Weiß im Bogen in das Schwarz überging. Er neigte die Untertasse und trank, ohne seinen Schnurrbart zu benetzen. Papa-ji arbeitete bei einer britischen Firma für medizinischen Bedarf, und Prabhjot Kaur kannte die englische Bezeichnung für seinen Posten dort: Assistant Regional Manager - »Stellvertretender Bezirksleiter« -, sie wußte, daß er sich vom Vertreter hochgearbeitet hatte, doch was ein Bezirksleiter genau war, blieb ihr verborgen. Sie wußte außerdem, daß sie in dem tief verschlafenen Dorf Khenchi Land besaßen, das jährlich elf Quintal 505 guten Weizen pro Acre 008 lieferte, und daß ihnen diese großväterliche Gabe eine große Hilfe war. Seit sie zurückdenken konnte, war sie jeden Winter in Khenchi gewesen, in dem einsamen, baufälligen gelben Haus inmitten grüner Felder. Sie wußte, daß der Umzug aus dem gelben Haus in das jetzige ein Fortschritt war und daß dies alles durch Bildung möglich geworden war, weil Papa-ji als erster Junge im Dorf ein College besucht hatte.
»Noch ein halbes Jahr, und ich hab sie alle auf dem Stand der ersten Klasse«, sagte sie. »Und in einem Jahr auf dem Stand der zweiten.«
Da sah er sie unter weißen Brauen hervor an. »In einem Jahr?«
»Ja.«
Er stellte seine Tasse auf die Untertasse zurück, obwohl sie noch zu einem Drittel voll war, und reichte sie Prabhjot Kaur. Dann wanderte er um den Garten herum, wieder und wieder, und streifte dabei mit dem Ärmel die Mauer. Als Mata-ji Prabhjot Kaur ins Haus rief, war er noch immer draußen und drehte mit gesenktem Kopf langsam seine Runden.
Warum waren die Erwachsenen traurig? Prabhjot Kaur konnte kaum je einen Grund dafür erkennen. Zwischen Mata-ji und gewissen Tanten, Cousinen und Nachbarinnen gab es alte Fehden, und manchmal murrte Mata-ji deswegen und redete von früh bis spät von einem lange zurückliegenden Verrat oder einer Beleidigung, an anderen Tagen aber war sie blaß und wurde ohne erkennbaren Grund von Seufzern und einer unbestimmten Traurigkeit heimgesucht. Selbst Navneet-bhenji hatte Tage, an denen eine vage Melancholie sie verstummen ließ, auch noch nachdem ihre Verlobung und die Briefe ihres Verlobten sie sinnlich und schön gemacht hatten. Deshalb gab Prabhjot Kaur nicht viel auf Papa-jis Stimmung. Am nächsten Morgen schien er wieder munter wie immer. Hinter dem Haus waren Arbeiter, und im Weggehen erfuhr Prabhjot Kaur, daß über den Fensterläden Gitter angebracht werden sollten. Als sie zurückkam, saßen dicke, kantige Eisenstangen senkrecht vor den Fenstern. »Sie werden noch grün gestrichen«, sagte Papa-ji, »wie die Läden.« Doch nun ging Prabhjot Kaurs Fenster nicht mehr ganz auf, und Ram Paris Familie war ihrem Blick entzogen. Sie redete mit Papa-ji, wies auf die untaugliche Konstruktion hin, aber zu ihrer Verwunderung sagte er nur: »Das ist nicht mehr zu ändern, Beta. Das Fenster geht auf, wenn auch nicht ganz.« Und das sagte derselbe Mann, der vier Wagenladungen Ziegel hatte zurückgehen lassen, weil es nicht genau die waren, die er bestellt hatte. Am nächsten Morgen wollte Prabhjot Kaur mit Manjeet und Asha über die Sache reden, doch als sie in den Tanga stieg, schwang sich Iqbal-virji neben Daraq Ali auf den Vordersitz, seinen Kricketschläger zwischen den Knien, die großen Fäuste um den Griff geschlossen. Den ganzen Weg zur Schule redete er kein Wort. Die drei Mädchen saßen mit halb abgewandtem Kopf hinten, und niemand im Tanga sprach. Erst nachdem sie das Schultor passiert hatten, forderte Manjeet die anderen mit einer knappen Kopfbewegung zu einer geheimen Besprechung auf, und sie steckten in einem Winkel die Köpfe zusammen, so daß sie sich fast berührten. »In Minapur sind letzte Nacht drei Morde passiert«, flüsterte Manjeet. »Drei Hindus sind umgebracht worden.« Sie zitterte, ihr Ellbogen zuckte an Prabhjot Kaurs Arm. »Eins war ein Mädchen.«
Prabhjot Kaur konnte sich den ganzen Tag nicht konzentrieren. Sie schrieb nichts in ihre Hefte, und in der Pause
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