Der Pate von Bombay
Augen fühlte sie sich besser. Manchmal schaute sie aus dem Fenster und sah Ram Pari, Natwar und all die anderen zusammengedrängt dort unten sitzen, doch sie vermied es, den Blick zum Garten und dem, was dahinter lag, zu heben. Nur in ihrem Zimmer, auf dem Bett, fühlte sie sich geborgen.
Draußen wurden Männer und Frauen getötet, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Prabhjot Kaur wußte, wie es sich nannte: Khun 339 . Sie behielt das Wort auf der Zunge, und es fühlte sich an wie ein viereckiger Apparat aus Stahl mit einem klaffenden Loch in der Mitte, von zähen Flüssigkeiten triefend und mit blitzend scharfen Kanten. Manjeet hatte ihr diesen Gegenstand, diese Todesmaschine, einmal in einem Schulbuch der Abschlußklasse gezeigt, und nun hatte sie das Bild wieder vor Augen. Khun. Papa-ji und die Brüder brachten die Namen der vielen ins Haus, die bereits gestorben waren. Ein Sardar namens Jasjit Singh Ahluwalia, an der Ecke Pakmara Street und Campbell Road, nahe der Tarapore Bakery, von Männern mit Schwertern aufgehängt und zerstückelt. Ramesh Kripalani, sechzehn, mit kunstgerecht durchgeschnittener Kehle aufgefunden, den Kopf im Rinnstein, so daß nicht ein einziger Blutstropfen die Ali Jafar Road besudelte. »Ein Fleischer aus Karsanganj soll es gewesen sein«, sagte Alok-virji. »Hat ihn abgefangen, als er von seinem Chacha nach Hause ging.« Khun. Und es gab andere, viele andere. Mata-ji und ihre Töchter lauschten der immer länger werdenden Liste. Am Tag als die Abschlußprüfungen beginnen sollten, wurde Ram Paris Mann getötet, mit zwei weiteren Plünderern um sechs Uhr früh in der Larkin Road von der Polizei erschossen. Prabhjot Kaur erfuhr es am nächsten Tag, erst schien es nur ein Gerücht, dann war es Gewißheit. Ein Wehklagen erhob sich hinter dem Haus, ein wirrer, an-und abschwellender Chor, dem man nirgends entgehen konnte, und zum ersten Mal hörte Prabhjot Kaur den Namen des Mannes: Kuldish. Den ganzen Tag trauerten sie um Kuldish, den bösen Ehemann, der nie gekommen war, um Ram Pari zu bedrohen. Ihr Wimmern ging Prabhjot Kaur unter die Haut, ließ sie erschauern.
Am Abend forderte Mata-ji die Brüder auf, zu Hause zu bleiben, nicht hinauszugehen, doch Iqbal-virji lachte, und sein Lachen fiel in den Raum wie schepperndes Metall. Sie gingen dennoch. Bevor Alok-virji die Tür schloß, drehte er sich noch einmal um und sah Prabhjot Kaur an, sah sie alle an, seine Schwestern und seine Mutter, zornig und fast verächtlich. Mata-ji schimpfte auf die Muslime. »Man kann mit diesen Leuten einfach nicht leben«, sagte sie. »Zu einem friedlichen Zusammenleben sind die nicht fähig.« Ihr Gesicht war stark gerötet und verquollen. »Diese dreckigen Lügner.« Prabhjot Kaur zählte im Kopf die Muslime auf, die sie kannte: Da war natürlich Daraq Ali, dann Papa-jis Freund Khudabaksh Shafi, der immer einen Korb Erdbeeren, Apfel oder Mangos mitbrachte, mit seinen Söhnen, Töchtern und Enkelkindern; Parveena und Shaukat Shah, die Inhaber des Excellent Store, in dem Prabhjot Kaur und ihre Geschwister ihre sämtlichen Schuluniformen und Schuhe gekauft hatten; die Muslim-Mädchen in der Schule, vor allem die rundgesichtige Nikhat Azmi, mit der das Trio bei Manjeet immer spielte. Die Liste wurde länger und länger, und es schien Prabhjot Kaur, als käme immer noch jemand dazu, immer noch ein Gesicht, an das sie sich erinnerte, bis sie spätabends einschlief. Mata-ji aber schimpfte. Und Pritam Singh Hansra, der sich seit anderthalb Monaten in Amritsar aufhielt, schrieb Briefe an Papa-ji. Er schrieb nicht mehr an Navneet-bhenji, er schrieb an Papa-ji und bat ihn inständig, nach Amritsar zu kommen, mit der ganzen Familie, vor allem aber mit Navneet-bhenji. »Ihr wißt selbst, was los ist«, schrieb er. »Und es kann nur noch schlimmer werden.«
Doch Papa-ji war wie gelähmt. Morgens las er kopfschüttelnd die Zeitungsberichte von Feuer, Mord und Überfällen auf Züge voller Flüchtlinge, und nachmittags verstummte er ganz. Er saß in einem Lehnstuhl im Hof und rührte sich nicht mehr, als läge er in Ketten. Er zog sich auch nicht mehr um, sondern saß den ganzen Tag in Banian und Pajamas da, einen Patka 484 auf dem offenen Haar, die nackten Füße auf dem Ziegelboden. Prabhjot Kaur wußte, daß er auf etwas wartete, und sie sah, daß ihn alle Energie verlassen hatte, daß seine Willenskraft abgeflossen war wie Wasser aus einem Eimer. Sie dachte daran, wie er damals, als die Baugrube für das Haus ausgehoben
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