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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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standen die Mädchen der ganzen Schule in Grüppchen beisammen und fingen kein einziges Kidi-kada 343 an. Als es zum Schulschluß klingelte und alle ans Tor liefen, sah Prabhjot Kaur Iqbal-virji neben dem Tanga stehen. Unendlich erleichtert rannte sie zu ihm und blieb erst dicht vor ihm stehen, den Tränen nahe. Er legte ihr die Hand auf den Kopf und führte sie um den Wagen herum zu ihrem Sitz. Auch auf der Rückfahrt herrschte Schweigen, schwer und unbehaglich wie eine dicke Wolldecke im Sommer. Daraq Ali richtete kein einziges Mal das Wort an Shagufta, und das ängstigte Prabhjot Kaur mehr als alles andere. Die Straßen waren nicht so voll wie sonst, die Leute redeten nicht miteinander, niemand stand plaudernd an den Straßenecken oder vor den Läden. Als der Tanga endlich um die Ecke bog und Prabhjot Kaur das vertraute Rechteck des Tors sah, durchströmte sie ein warmes, jubelndes Gefühl der Geborgenheit, wie ein Honigbad, weich und zärtlich auf ihrer Haut. Sie lief ins Haus, umarmte Navneet-bhenji, setzte sich dicht neben sie und trank ohne das übliche Protestquieken einen riesigen Becher Milch, stürzte ihn in tiefen Zügen bis auf den letzten Tropfen hinunter. Erst dann merkte sie, daß Iqbal-virji mit dem Tanga weitergefahren war, um Asha nach Hause zu bringen. In dieser Nacht war sie froh über die eisernen Gitterstäbe, die zumindest die Bedrohung fernhielten, auch wenn die Angst deshalb nicht wich. Und sie war froh, nicht im Freien schlafen zu müssen.
    Sie wachte davon auf, daß ihr Gesicht im vollen Licht lag. Im Hof draußen war es hell; es mußte schon spät am Morgen sein, sehr spät. Sie schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, und ihr Herz begann zu hämmern. In knapp zehn Minuten würde es in der Schule zur Morgenversammlung läuten. Sie sprang aus dem Bett und lief hinaus. »Warum hast du mich nicht geweckt, Mata-ji?« rief sie atemlos. »Es ist schon so spät!«
    Mata-ji streckte ihr die Hand entgegen. »Schon gut, Beta«, sagte sie sanft. »Heute ist keine Schule. Und auch kein College. Alles ist geschlossen.«
    »Wieso?«
    »Es gibt Unruhen in der Stadt. Geh dir das Gesicht waschen, und komm dann frühstücken.« Sie berührte Prabhjot Kaurs Hand, hielt einen Moment ihr Handgelenk. »Geh.«
    Es war der ruhigste schulfreie Tag, den Prabhjot Kaur je erlebt hatte. Sie blieb in ihrem Zimmer, ordnete ihre Bücher und räumte ihre Schultasche aus, doch um elf hielt sie es nicht mehr aus. Sie schlich auf Zehenspitzen durchs Haus, schlüpfte zur Tür hinaus und stellte sich ans Tor. Nichts rührte sich in den Straßen, als hätten die Leute sich abgesprochen und alle gleichzeitig die Stadt verlassen. Aber Prabhjot Kaur wußte, daß sie da waren. Sie ging ums Haus herum, und da kauerte Ram Pari mit ihrer Brut. Selbst Nat-war war da, der doch sonst immer auf schmutzigen nackten Füßen durch die Gassen hüpfte und ein geheimnisvolles Eigenleben führte, von dem Prabhjot Kaur keinerlei Vorstellung hatte.
    »Geh rein, Nikki«, sagte Ram Pari. »Das ist nichts für dich hier draußen. Du bleibst besser im Haus.«
    »Warum?«
    »Es passieren schlimme Dinge, Nikki.« Ram Pari hielt den Blick auf die hintere Gartenmauer gerichtet, und Prabhjot Kaur blickte in die schmutzige Gasse dahinter, eben noch ein nichtssagendes, von hin und her wehenden Papierschnipseln bedecktes Band aus eingetrocknetem Matsch, das sich jetzt, sogar im hellen Tageslicht, dunkel und bedrohlich hinstreckte. Prabhjot Kaur betrachtete prüfend die Mauerkrone und fragte sich, ob sie hoch genug sei. Sie hätte die Höhe der Mauer und damit den Schutz, den sie bot, gern nachgeprüft, aber der Garten erschien ihr wie eine unbekannte Wildnis, und sie wagte nicht, ihren Fuß von den Ziegeln herab auf die Erde zu setzen. Sie nickte, ging wieder ins Haus und ließ sich im Schneidersitz auf ihrem Bett nieder. Dann wartete sie, ohne zu wissen, worauf.
    Auch das Mittagessen verlief in gedrückter Stimmung, alle redeten leise, und Navneet-bhenji sagte gar nichts. Papa-ji und die Brüder saßen in einem kleinen Kreis beisammen und unterhielten sich mit gesenkten Köpfen. Nach dem Essen setzte sich Prabhjot Kaur wieder auf ihr Bett, dann lehnte sie sich zurück und trommelte mit den Fersen auf die Decke. »Hör auf!« platzte Mani heraus. »Du machst mich wahnsinnig!« Und Wahnsinn war es auch, was sich an diesem Nachmittag wie eine langsame Ameisenprozession Prabhjot Kaurs Bein hinaufschlich und hinter ihren Schulterblättern staute. Als schließlich

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