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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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die Kette am Tor rasselte und das metallische Geräusch durchs Haus und in Prabhjot Kaurs Kopf hinein hallte, wurde sie von heftiger Angst gepackt, empfand aber zugleich Erleichterung. Sie sprang vom Bett und lief hinaus. An der Tür hielt sie sich mit einer Hand fest, schwang sich vor und sah Iqbal-virji, Alok-virji und Papa-ji durchs Tor hinausgehen. Sie rannte nach vorn. Papa-ji stand nun mit gerecktem Hals auf der anderen Seite der Gasse, und man hörte hastiges Fußgetrappel und Stimmengewirr. Ein schnelles Schnaufen neben ihr ließ sie herumfahren: Es war Natwar. Sie lehnten sich nebeneinander ans Tor. Natwars Augen waren kohlschwarz. Er schlüpfte an ihr vorbei auf die Gasse hinaus. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, lief sie ihm nach, und im nächsten Moment befand sie sich inmitten einer Schar rennender Männer. Sie behielt Natwar im Auge und folgte ihm, als er sich im Zickzack zwischen ihnen durchschlängelte. Plötzlich kam die Menge zum Stehen. Ohne sich zu Prabhjot Kaur umzudrehen, streckte Natwar ihr die Hand hin und zog sie weiter durch das dichte Gedränge. Sie stieß mit dem Kopf an Hüften und Hinterteile, sie stolperte nach vorn und schlug mit der Nase auf Natwars Schulter auf. Die Straße vor ihnen war frei. Ein ramponierter Tanga stand dort, und ein Pferd lag auf dem Boden, verheddert in Geschirr und Riemen, den Hals vorgereckt, als versuchte es verzweifelt, sich weiter vorwärts zu schieben. Es war Shagufta. Prabhjot Kaur erkannte sie sofort. Shagufta bleckte vor Anstrengung die riesigen Zähne. Ihre Vorderbeine waren angewinkelt, die Hinterbeine gestreckt, und dazwischen quollen dicke blaue Schlingen aus ihrem Bauch hervor. Prabhjot Kaur konnte geradewegs in Shagufta hineinschauen, in eine Höhle von der Farbe einer überreifen Winterpflaume. Die Eingeweide, so schien es Prabhjot Kaur, drängten noch immer in fettigen Wogen aus dem Pferdeleib. Die Straße unter dem Tanga war schwarz und naß. Hinter dem Wagen hatte sich eine Menschenmenge versammelt, Muslime, das wußte sie irgendwie, nicht nur der Kleidung wegen, vorne erkannte sie Daraq Ali. Er schrie etwas, und Prabhjot Kaur sah seine Zähne. Die Münder all der Männer standen offen, und darin schimmerten weiß die Zähne. Die Menge bewegte sich ruckweise vorwärts und wich dann wieder zurück. Irgend jemand schob Prabhjot Kaur von hinten weiter, sie blickte in Shaguftas weit aufgerissene, feuchte Augen. Shagufta schien noch zu leben, doch als Prabhjot Kaur zu ihr wollte, wurde sie am Arm hoch-und herumgerissen, so daß sie vor Schmerz aufschrie. Es war Papa-ji. Er rannte mit ihr durch die Menge zurück und hielt sie dabei fest an seiner Seite. Er lief und lief. Die ganze Gasse entlang spürte sie seinen Griff an ihrem Arm. Im Hof, wieder zu Hause, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie, so heftig, daß auch sein eigener Kopf hin und her schlenkerte, das Gesicht wutverzerrt und verschwitzt. Prabhjot Kaur sah es nur verschwommen. »Warum bist du rausgelaufen?« rief er und gab ihr einen Klaps. »Warum bist du rausgelaufen? Warum?« Ein zweiter Klaps folgte.
    »Laß sie«, sagte Navneet-bhenji. Sie führte Prabhjot Kaur in ihr Zimmer, setzte sich zu ihr und bettete den Kopf der kleinen Schwester in ihren Schoß. Sie strich ihr über Gesicht und Schultern, und Prabhjot Kaur spürte Navneets flatterndes Herz. Mani saß mit hochgezogenen Knien an der Wand. Mata-ji kam herein, schloß schnell die Tür und legte die Kette vor. Sie zog sich den Dupatta über den Kopf und setzte sich ebenfalls aufs Bett. Von fern hörte man anhaltendes wirres Geschrei, wie das stetige Knistern eines schwachen Feuers. »Vaheguru, Vaheguru«, sagte Mata-ji. So saßen sie zusammen, bis es dunkel wurde. Dann war es still.
    Nach dieser Nacht ging keine der Frauen mehr aus dem Haus. Prabhjot Kaur blieb die meiste Zeit im Bett. Sie stand nur zum Essen auf, und wenn Mata-ji sie rief, schlich sie sich so schnell wie möglich wieder fort. Papa-ji kam herein, ließ sich mit einem Kissen auf dem Schoß und gekreuzten Beinen nieder und neckte sie, brachte sie zum Lachen und kitzelte sie an den Fußsohlen, und sie begriff, daß er sich damit für seine Panik entschuldigte. An seiner Hand wagte sie sich in den Hof hinaus, bekam im Freien aber wieder Angst, ein Gefühl, als blähe sich eine harte Blase in ihrer Brust zur Größe einer Zwiebel auf und nehme ihr den Atem. Schnell lief sie in ihr Zimmer zurück. Mit den weißen Wänden und den Gitterstäben vor

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