Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
Vom Netzwerk:
Versuche, die Füße von der Ferse zu den Zehen abzurollen, um geräuschlos zu gehen. Niemand sprach. Die Sonne war untergegangen, und Prabhjot Kaur setzte sich auf eine Truhe, vor ihren Augen verschmolzen die Umrisse ihres Zuhauses mit der Dämmerung. Iqbal-virji kam und wusch sich unter der Pumpe die dreckverschmierten Arme und Hände. Das Wasser klatschte so laut auf die Ziegel, daß Prabhjot Kaur zusammenzuckte, dann trat wieder Stille ein.
    »Bibi-ji.« Es war Ram Pari. Sie flüsterte. Mata-ji antwortete nicht. Ram Pari trat in den Hof und kauerte sich neben Mata-ji. »Was sollen wir tun?« fragte sie. »Was sollen wir tun?«
    »Hier ist Geld für euch«, sagte Mata-ji.
    Prabhjot Kaur war froh, daß die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg. Sie hielt sich die Hände vor den Mund. Seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen hatte sie nicht mehr an die Familie gedacht, die direkt unter ihrem Fenster lagerte, weder an Ram Pari noch an Natwar oder Nimmo - an niemanden. Sie waren ihre Schüler gewesen, und sie hatte sie völlig vergessen. Sie hatte sich in ihrem Bett verkrochen und sie aufgegeben.
    »Wo sollen wir hin, Bibi-ji? Und wie?«
    »Ich weiß es nicht, Ram Pari. Komm, nimm das.« Prabhjot Kaur sah die Umrisse von Mata-jis ausgestrecktem Arm. »Nimm.«
    Der Anblick der beiden Silhouetten schnürte Prabhjot Kaur die Luft ab, schnitt ihr ins Herz, und in dem scharfen Schmerz wußte sie plötzlich, daß die Welt nie wieder dieselbe sein würde. Sie wollte etwas sagen, aber es gab nichts zu sagen.
    »Ihr werdet uns verlassen, Bibi-ji«, sagte Ram Pari. »Wir werden sterben.«
    »Vaheguru wird für uns alle sorgen.« Mata-ji streckte die Hand weiter vor und schüttelte sie nachdrücklich. Ram Pari sank noch mehr in sich zusammen. Prabhjot Kaur glaubte schon, sie würden ewig dort unter dem riesigen stillen Himmel sitzen, doch dann kam Alok-virji aus seinem Zimmer und stand in seiner vollen Größe vor ihnen.
    »Nimm es«, sagte er, nahm Mata-ji das Geld aus der Hand, zog Ram Pari an der Schulter hoch und ging mit ihr an Prabhjot Kaur vorbei. »Übermorgen startet hier eine Karawane, Tausende von Leuten, zu Fuß. Mit ihnen kannst du gehen.« Prabhjot Kaur glitt von ihrer Truhe und folgte Alok-virji, und obwohl sie es nicht sehen konnte, wußte sie, daß er Ram Pari das Geld in die Hand drückte. »Wir können nichts mehr für euch tun. Geh.« Er schob sie zur Tür hinaus, drehte sich um und kehrte zu seinen Vorbereitungen zurück. Ram Pari blieb in dem Durchgang zum Hof dicht an der Wand stehen. Prabhjot Kaur trat einen Schritt vor und legte ihr die Hände an die Seiten, umklammerte sie, lehnte sich an sie und spürte den Stoff an ihrem Gesicht, atmete die lebendige Ausdünstung dieser Frau ein, verschwitzt, scharf und bitter. Schließlich löste Ram Pari ihre Hände und ging davon, ein Schatten an der Wand. Prabhjot Kaur schaute ihr nach.
    Der Tempo kam eine Stunde zu spät, und es war nicht der erwartete Lastwagen, sondern ein quietschendes, knarrendes schwarzes Auto. Den Fahrer, einen kleinen, kahlköpfigen Mann, begleitete der Polizist vom Tag zuvor. »Schnell«, sagte er, »schnell, schnell!« Iqbal-virji und Alok-virji beluden den Notsitz und zurrten die Fracht fest. Zwei Truhen und mehrere Bündel kamen aufs Dach, der Rest wurde auf dem Wagenboden verteilt. Dann war das Auto voll.
    »Kommt«, sagte Iqbal-virji. Als sie am Wohnzimmer vorbeilief, sah Prabhjot Kaur die Gestalten, die sich an der Hausecke drängten. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen, aber sie wußte, daß es Ram Pari, Nimmo, Natwar und die anderen waren. Auf dem Weg zum Tor stolperte sie immer wieder über Pakete, die zurückgelassen werden mußten. Der Motor tuckerte bereits. Papa-ji setzte sich rechts auf den Rücksitz, neben ihm Mata-ji, dann Navneet-bhenji, Mani und Iqbal-virji. Prabhjot Kaur kam vorn zwischen Alok-virji und den kahlköpfigen Fahrer. Der Polizist klopfte auf die Motorhaube.
    »Los«, sagte er. »Schnell.«
    Als sie anfuhren, kniete sich Prabhjot Kaur auf den Sitz und schaute zurück, sah aber nur den Polizisten, der aufrecht am Tor stand, und Mata-ji, Navneet-bhenji und Mani, die sich auf dem Rücksitz zusammenrollten wie Kinder, wenn sie sich auf einer langen Fahrt zum Schlafen einrichten. »Runter!« rief Alok-virji, faßte Prabhjot Kaur am Nacken und drückte sie nach unten. Seine Stimme zitterte, und Prabhjot Kaur bekam große Angst. Ihr Gesicht lag an seiner Seite und der Rücklehne, doch aus ihren weit aufgerissenen

Weitere Kostenlose Bücher