Der Pate von Bombay
alles, was die Menschheit je getan hat. Dieses Leben ist eine Krankheit, denkt er. Möge es enden. Möge alles enden. Gaitonde hatte Angst vor dem plötzlichen grellweißen Licht gehabt, einer Explosion und einem tosenden Wind, der alles wegreißen würde, was auf der Oberfläche des Morasts gebaut worden war. K. D. Yadav dreht sich auf den Rücken und stellt es sich vor, die gewaltige, aufsteigende Explosion, den plötzlichen Tod, die Stille danach. Endlich wird Ruhe herrschen. Ein Verlöschen, wie wenn man eine Kerze ausbläst. Er denkt daran und spürt den Frieden, die Notwendigkeit eines solchen Endes. Mit einem zufriedenen Lächeln schläft er ein.
Als er aufwacht, sitzt Anjali angezogen neben seinem Bett. Sie lächelt ihn an. »Ist dir irgend etwas eingefallen?«
»Nein«, sagt er. »Nichts. Gar nichts.«
Sie nickt. Hinter ihr steht ein junger Mann, ein eleganter Bursche mit gestutztem Schnurrbart und listiger Miene. »Das ist Amit Sarkar«, sagt sie. »Er hat gerade in der Organisation angefangen, er ist mein Trainee. Er wird heute bei dir bleiben.«
»Guten Morgen, Sir«, sagt Amit Sarkar, und in seiner Stimme schwingt die Begeisterung des Novizen in Gegenwart einer Legende mit.
Anjali hält die Überwachung also aufrecht, folgt ihrer Intuition, wider alle Wahrscheinlichkeit. K. D. soll es recht sein. Er hat mit alldem abgeschlossen. »Gut«, sagt er und läßt sich wieder in seine Kissen sinken. Er will unbeschwert sein, sich treiben lassen, doch es arbeitet in ihm. Gaitondes Geld. Irgend etwas an Gaitondes Geld fuchst ihn, das Bild geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, nagt an ihm, ein Crore und zwanzig Lakhs in Bündeln von der Zentralbank. K. D. schiebt die Erinnerung an das Geld weg, er will nichts davon wissen. Er konzentriert sich auf die Wand, auf das leichte Vibrieren des Lichts infolge der Bewegung des Deckenventilators. Er sinkt in eine angenehme Schläfrigkeit, eine schwerelose Wahrnehmung, die von Erinnerung über Bild zu Gedanke springt, ohne irgendwo anzuhaften. Sein Verstand fühlt sich federleicht an, von der Gravitation befreit. In der unteren Hälfte seines Blickfelds tummeln sich immer noch Geister aus der Vergangenheit, Soldaten, die längst tot sind, Informanten, Agenten, Opfer. Er betrachtet das alles mit erhabener Distanz. Und in der oberen Hälfte kommen und gehen Besucher. Ehemalige Kollegen mit ihren Enkeln. Dr. Kharas und ihre Medizinalassistenten. Krankenschwestern und Helfer. Abends kommt schließlich Anjali zurück, um Sarkar abzulösen. Sie flüstern miteinander, dann kommt sie und setzt sich im Licht der Abenddämmerung zu K. D. Er ißt etwas, weil sie darauf besteht und er kein Aufhebens machen will. Sonst hätte er, ebenfalls ohne Aufhebens, das Essen stehenlassen. Ihm ist jetzt alles egal. Eine Nacht verstreicht, dann ein weiterer Tag. Er betrachtet das Leben vor seinen Augen und das Leben, das sich in seinem Innern abspielt, und beide sind gleichermaßen irreal, alles Einbildung, Dr. Kharas mit ihren spitzen Nadeln und ihren Diagnosen, Anjali, die vom Kurs abweichenden, heulend auf einen pakistanischen Flugplatz niederstoßenden MiGs, zwei Männer, die durch Reisfelder laufen. All die Illusionen, all diese unwirklichen Männer und unwirklichen Frauen, die für Illusionen leben und leiden und ihretwegen sterben. Möge alles morgen enden, diese bedeutungslose Kavalkade von Geistern, enden in einem unentrinnbaren Aufblitzen weißen Lichts. Morgen ist es vorbei. Dieser Gedanke befriedigt K. D., und ihm ist wohl.
Er träumt. Er weiß, daß er schläft, und weiß, daß er träumt. Er ist sich seiner selbst als des schlafenden Beobachters bewußt, und zugleich spürt er durch die dicken Sohlen seiner Leinenturnschuhe das harte Aufsetzen seiner rennenden Füße. Sie spielen Fußball auf dem Plateau, das sie an der Flanke des Berges angelegt haben. Alle sind da: Khandari in seinem grünen Pullover aus grober Wolle, links außen Rastogi, DaCunha mit seinem ständigen »Steil, Mann, steil!« und Ginzanang Dowara, der versucht steil zu spielen, aber immer wieder den Ball verliert. Es ist Sonntag, und sämtliche Männer, die nicht im Dienst sind, haben sich in zwei Mannschaften zu je vierzig aufgeteilt und spielen jetzt einen hektischen, brutalen Fußball auf dem ihrer Vermutung nach höchstgelegenen Fußballplatz der Welt. Sie haben ihn aus dem Berg herausgehauen, zwei Monate harter Arbeit in großer Höhe, haben eine vorhandene, fast ebene Fläche verbreitert. Der Ball ist den
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