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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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cholerisch, und man konnte die Kinder nicht allzu lange ihrer harten Hand überlassen. Obwohl dem Jungen ein paar Klapse und Knuffe nicht schaden würden, dachte Shalini, aber es war nicht der Zeitpunkt, Bhartis Sohn zu kritisieren. Als Bharti zur Tür hinausging, berührte Shalini sie am Oberarm, ein leichtes Tätscheln, ihr üblicher schwesterlicher Willkommens- und Abschiedsgruß. Doch Bharti marschierte starr und hoch erhobenen Hauptes die Straße hinunter. Shalini ließ sich in der offenen Tür nieder. Fünf untätige Minuten gestattete sie sich, ein erschöpftes Hinabsinken in völlige Entspannung. Sie beobachtete die Passanten. Es war kurz vor halb acht, und die Straße war voll von Leuten, die nach Hause zurückkehrten. Die Schatten waren schon lang, die Tage wurden kürzer. Bald würde man nachts ein zweites Laken brauchen und eine Decke. Es wurde Herbst. Die Menschen gingen in stetem Strom vorüber, im hypnotischen Gleichmaß der Scherenbewegung von Beinen und Knöcheln, des Hinundherschwingens von Taschen voller Zwiebeln, Kartoffeln, Grießmehl, Seife und Kokosöl. Einige der Jüngeren trugen schicke Aktenkoffer und hatten einen schnelleren, zielstrebigeren Gang als andere. Und alle gingen vorüber.
    Fünf Minuten. Shalini wußte, wann sie vorbei waren. Sie besaß ein untrügliches Zeitgefühl. Ohne je eine Uhr zu benötigen, konnte sie auf die Minute genau sagen, wie spät es war. Sie wachte ohne Wecker auf und war täglich genau sechs Minuten vor Ankunft ihres Zuges am Bahnhof. Und jetzt war ihre Pause vorbei. Einen Moment lang, nur ein paar Herzschläge lang, wollte ihr Körper noch in seiner Ruhe, diesem Luxus des Rastens auf Stein und Holz, verharren, doch dann raffte sie sich auf. »Ambabai«, sagte sie leise und warf der Gottheit auf dem Regal einen Blick zu. »Aufwachen, aufstehen. Wir haben zu tun.«
    Als die Jungen kamen, war das Essen fertig. Rohit nahm einen halben Eimer Wasser und führte seinen jüngeren Bruder hinaus. Durch das Plätschern des Wassers hindurch hörte Shalini die beiden leise miteinander reden. Ihr Vater hatte darauf bestanden, daß sie sich, wenn sie vom Spielen kamen, erst Hände und Füße wuschen, bevor sie sich im Haus hinsetzten. Sie hatten dann jedesmal gemurrt, hatten es als unerträglichen väterlichen Druck empfunden, besonders Rohit, der sich, wenn sein Vater nicht da war, schlicht geweigert hatte. Jetzt, da dieser Vater für immer fort war, vollzog er die abendliche Waschung mit rituellem Ernst und beaufsichtigte seinen Bruder dabei, diszipliniert und unnachsichtig wie ein Polizist. Rohit war überhaupt sehr ernst geworden. Jeden Morgen besprach er mit Shalini, was einzukaufen war, und nachmittags ging er nach der Schule zum Bazaar. Das Wechselgeld, das er zurückbrachte, stimmte stets genau, und er legte Shalini ein Heft vor, in dem er über die Ausgaben Buch führte. Er hatte jetzt auch einen Hausschlüssel, den er an einer roten Schnur um den Hals trug und nur zum Schlafen ablegte. Beim Essen ließ er ihn über seinen gebeugten Rücken herabhängen.
    »Sind die Hausaufgaben gemacht, Mohit?« fragte Shalini.
    Mohit aß schnell mit seinen flinken kurzen Fingern, die Schale auf dem Schoß, den Kopf gesenkt. »Mmmm«, machte er, »mmmm.«
    »Er hat am Freitag einen Mathe-Test«, sagte Rohit, »und er hat noch nicht mal angefangen, dafür zu lernen.«
    »Am Freitag«, sagte Mohit mit vollem Mund.
    Bis Freitag waren ja noch drei Tage Zeit, meinte er. Shalini verstand ihn. Er hatte bei den letzten Prüfungen ziemlich schlecht abgeschnitten, aber von einem kleinen Jungen, der zur Bestattung seines Vaters hatte gehen müssen, war das nicht anders zu erwarten. Wie jeder, der ihn kannte, hatte Shalini geglaubt, er würde sich daran gewöhnen, würde damit fertig werden und zu seiner ruhigen, stetigen Art zurückfinden. Aber er glitt weiter ab, er machte seine Hausaufgaben nicht und raste in irgendeiner geheimen Mission durchs Leben. Er versteckte sich hinter seinem Bett in einem Winkel voller Comic-Hefte, deren reißerische Umschläge schnauzbärtige, pistolenschwingende Abenteurer zeigten. In seinen Schulheften zeichnete er Gewehre an den Rand und Muskelmänner, die gigantische Kanonen abfeuerten. Er hatte jetzt ein Privatleben, eine innere Welt, in der Shalini ihn nicht mehr erreichte. Das war bei Kindern und besonders bei Söhnen zwar normal, aber nicht schon so früh. Sie klopfte sich das Mehl von den Händen und tätschelte ihm mit dem Unterarm den Kopf. »Fang

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