Der Pate von Bombay
freute sich auf den Schlaf wie auf ein Stück Schokolade. Doch dann brach ihr der Schweiß in den Achselhöhlen aus, und sie mußte sich aufrichten und den Ventilator auf die höchste Stufe stellen. Sie lag im Luftstrom, und die Zeit verging. Sie versuchte an schöne Dinge zu denken, an Matheran im Regen, an Kaho Na Pyaar 503 Hai und den Song auf der Yacht, an zufriedene Kundinnen. Sie schaute auf die Uhr. Eine Stunde war vergangen. Sie tastete nach den Tabletten auf dem Tisch und schob sich noch ein Calmpose in den Mund. Das mußte wirken - sie nahm sonst nie Tabletten. Wieder wartete sie. Eine Auto-Rikscha tuckerte die Hauptstraße entlang und bog mit knirschendem Getriebe in die Gasse ein. Ein schrecklicher Lärm. Sie hielt ganz in der Nähe, der Taxameter ratterte, dann sprang der Motor wieder an. Mary hatte all diese nächtlichen Geräusche nie zuvor bemerkt. Sie drehte sich auf die Seite und legte sich ein Kissen über den Kopf. In ihrem Bauch sammelte sich die Wut wie ein schwerer Klumpen. Hör auf, sonst steigt dein Blutdruck. Entspann dich, entspann dich. Aber sie war nun einmal da, diese aufgestaute Wut.
Mary stand die Nacht durch. Beim ersten Tagesgrauen erhob sie sich, in kalten Schweiß gebadet, und duschte, aber in ihrem Kopf blieb ein blechernes Summen zurück, das auch Tee und Toast nicht vertreiben konnten. Sie wartete bis halb zehn, dann wählte sie die Nummer, die Sartaj Singh ihr vor Monaten gegeben hatte.
»Der ist nicht da«, wurde sie barsch beschieden.
»Hat seine Schicht noch nicht angefangen?«
»Die fängt um acht an. Ich sagte doch, er ist nicht da.«
Um zehn war Singh noch immer nicht da und um elf auch nicht. »Are, der ist irgendwo unterwegs«, sagte eine andere Stimme mit genau dem gleichen aggressiven und gelangweilten Unterton. Sie mußte ganz langsam ihren Namen buchstabieren, aber wahrscheinlich landete der Zettel sofort im Papierkorb.
Natürlich kam kein Rückruf, nicht bis zwölf und auch nicht bis eins. Wie löste die Polizei in diesem Land je irgendwelche Fälle? dachte sie zunehmend erbittert. Sie fühlte sich jetzt frischer, neu belebt. Sie rief Jana an und traf sich mit ihr am Bahnhof Santa Cruz zum Einkaufen. Jana erstand Shorts mit aufgestickten blauen Ankern und drei T-Shirts für ihren Sohn und für sich selbst ein Paar Slipper. Sie feilschte mit den Thelavaalas, was das Zeug hielt, und handelte die Preise Rupie um Rupie herunter. Mary war zerstreut, sie hakte sich bei Jana ein, und sie schoben sich weiter durch die Menge. Jana warf ihr den altbekannten wissenden Seitenblick zu. »Weißt du, was du brauchst?« fragte sie.
»Fang bloß nicht wieder damit an, daß ich einen Freund brauche, Jana.«
»Wieso, Yaar, du glaubst wohl, ich hab nichts anderes im Kopf als Jungs. Ich wollte sagen, du brauchst mal eine Auszeit, du mußt mal raus aus der Stadt. Als du noch deine Mummy besucht hast, bist du immer so frisch und ausgeruht zurückgekommen. Der Ragda 510 macht einen fertig, wenn man zu lange hier ist.«
Mary umklammerte Janas Arm und nickte. Der Ragda rührte von den Straßen her, den Geschäften, dem Lärm, der schlechten Luft. Mit einer Freundin shoppen zu gehen wurde zur Strapaze: Man mußte sich durch dahinhastende Menschenmassen schlängeln, man mußte ständig Autos ausweichen, die von allen Seiten auf einen zurasten, und mit jedem Atemzug nahm man eine Dosis Gift auf. Doch es gab keine Mummy mehr, keine Farm, zu der Mary hätte fahren können. Sie hatte - trotz allem - gewußt, daß es kein Entrinnen gab aus diesem Labyrinth von Hütten und Häusern, diesem Straßengewirr. Sie konnte nicht mehr zurück, nicht, um dort zu leben. Nach Mummys Tod hatte sie das Haus mitsamt dem Inventar und die Farm mit allen Maschinen und Geräten verkauft. Von dem Geld hatte sie die Einzimmerwohnung in der Stadt erworben, den Rest hatte sie auf der Bank deponiert. Im Testament war sie als Alleinerbin eingesetzt, die andere Tochter war ausdrücklich von der Familie und dem Erbe ausgeschlossen worden. »Und wohin?« fragte Mary. »Möchtest du nach Matherab? Oder nach Ooty?«
»Ooty wäre schön,« sagte Jana sehnsüchtig. »Die blauen Berge ...«
»Also«, sagte Mary, »laß uns hinfahren.«
Doch schon im nächsten Augenblick mußte Jana einen Rückzieher machen. »Nein, Yaar. Wie soll das gehen?« Jana hatte viele Wünsche, für deren Erfüllung sie sparen mußte, das wußten beide, und es bedurfte keiner weiteren Debatte. Aber es war schön, an die blauen Berge zu
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