Der Pate von Bombay
denken.
Während sie mit der Autorikscha nach Hause fuhr, war Mary in Gedanken noch immer dort. Auch auf Mummys Farm hatte es Hügel gegeben, nicht so hoch wie die blauen Berge, aber immerhin. Und weiter im Westen, auf Alwyn Rodriguez' Farm, hatte es einen Wasserfall gegeben. Es war kaum mehr als ein Bach, der über schwarze Felsen herabfiel, aber er bildete einen sonnenglitzernden Bogen, und sie und Jojo hatten als kleine Mädchen darunter getanzt. Auch später noch, als frischgebackene Klosterschülerinnen, hatten sie am Ufer gesessen und zugeschaut, wie das Wasser über den Fels, der sich so glatt und rund an ihre Fußsohlen schmiegte, in die Tiefe rauschte. Damals hatten sie das Dorf schrecklich gefunden, eng und erdrückend mit Alwyn Rodriguez' ewigen Fehden und den mörderischen, endlosen Nachmittagen, an denen All-India-Radio nicht empfangen werden konnte und es absolut nichts zu tun gab. Mary zog sich ihren Chunni enger um den Kopf, um sich vor Wind und Abgasen zu schützen, und drückte sich auf dem Sitz in die Ecke.
Die Autorikscha bog um die letzte Kurve. Auf den Stufen zu Marys Haustür saß Sartaj Singh, ein wenig vorgebeugt, wie damals auf der Ufermauer. Mary stieg aus und zahlte. Ihre Hände zitterten, ein Zehn-Rupien-Schein fiel zu Boden, und sie mußte sich bücken, um ihn aufzuheben. Sie war wütend. Sie hatte doch nur bei ihm angerufen - wie konnte er es wagen, einfach hier aufzukreuzen? Diese Leute glaubten, sie könnten sich alles erlauben, nur weil sie Polizisten waren. Sie nahm das Wechselgeld und drehte sich um, entschlossen, ihm mit scharfen Worten klarzumachen, daß sie schließlich sein Gehalt zahle und ihre Rechte sehr wohl kenne. Er war aufgestanden. Er wirkte gealtert; im schrägen Licht der Lampe sah Mary weiße Strähnen in seinem Bart. Er war ein gutaussehender Mann gewesen, doch jetzt schien es, als wäre ringsum ein wenig von ihm abgebröckelt. Früher hatte er nur so gestrotzt vor Energie und Selbstbewußtsein, jetzt hatte sich alle Schärfe in einer milden Erschöpfung aufgelöst. Er trug Zivil. Seine blaue Hose hatte keine Spur einer Bügelfalte mehr, und er hatte zugenommen.
»Hallo, Miss Mary«, sagte er.
»Wie lange sind Sie schon hier?« Mary zeigte mit dem Kinn auf die Stufe.
»Eine Stunde.« Auch seine Stimme klang anders. Der ganze Mann wirkte irgendwie verschwommen.
»Die Nachbarn«, sagte Mary schroff. »Sie hätten doch anrufen können.«
»Hab ich auch, aber Sie waren nicht da.«
»Trotzdem.«
»Ja. Tut mir leid. Aber ich dachte, es ist vielleicht dringend. Wegen Ihrer Schwester. Sony.«
Er wirkte zu unsicher, als daß sie mit ihm hätte streiten können. Sie schüttelte den Kopf. »Kommen Sie.« In ihrer Wohnung blieb er an der Tür stehen, bis sie auf einen Stuhl zeigte. Sie hatte zwar keine Angst mehr vor ihm, vor seiner Autorität oder seinen Absichten, ließ die Tür aber angelehnt. Er nahm Platz. Seine ungenierte Polizistenneugier hatte er offensichtlich nicht eingebüßt, denn er musterte das Zimmer systematisch, von links nach rechts, dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. »Wasser?« fragte sie.
»Gern.«
»Kaltes?«
»Ja.«
Sie ging zum Kühlschrank, goß Wasser in ein Glas und brachte es ihm. Er betrachtete sie genauso ungeniert wie ihre Wohnung, und sie spürte, daß er, obwohl er verändert war, obwohl er müde und irgendwie angeschlagen wirkte, durch und durch Polizist war. Als sie sich vorbeugte, um ihm das Glas zu reichen, nahm sie einen Moment lang sauren Schweißgeruch wahr, den Geruch von Zügen, Menschenmassen und Hitze.
»Danke«, sagte er auf Englisch und setzte das Glas an den Mund. Er trank es ganz aus und blickte dann mit abwesender Miene hinein. »Ich hatte solchen Durst.«
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Mary. Ihre Stimme klang höher als beabsichtigt, schrill geradezu. Sie war es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten.
»Ja. Worum geht es?«
»Die Sachen von meiner Schwester - Sie haben gesagt, Sie würden mir helfen.«
»Sie wollen sie in Besitz nehmen?«
»Ja.«
»Es gibt keine anderen nahen Verwandten?«
»Nein.«
»Dann dürfte es nicht weiter schwierig sein. Sie müssen dem Gericht beweisen, daß Sie wirklich die Schwester sind, aber auch das dürfte kein Problem sein, auch wenn Sie keinen Kontakt mehr hatten. Wir geben Ihnen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Polizei, eine Bestätigung, daß unser Fall davon unberührt bleibt. Ich werde Parulkar-saab, meinen Oberboß, bitten, die Sache zu beschleunigen. Bas,
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