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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Gürtelschlaufen ein und wiegte sich vor und zurück. Er schaute auf seine futuristischen Schuhe hinunter. »Yaar«, sagte er schließlich. »Glauben Sie wirklich, daß es in der Stadt eine Atombombe gibt?«
    Sartaj hatte Kamble auf dem Weg zum Apsara von Gaitondes Atombunker erzählt. Er hatte im Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne plötzlich furchtbare Angst bekommen und mit irgend jemandem darüber reden müssen, und Katekar war nun einmal tot. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Offenbar hat Gaitonde die Gefahr einer Bombe gesehen.«
    »Das ist doch Monate her. Wenn uns jemand hätte in die Luft jagen wollen, dann hätte er es vor Monaten getan. Aber wir stehen noch hier, das heißt also, daß es keine Bombe gibt.«
    »Ja, das klingt logisch.« Es war eine einleuchtende Überlegung. Vielleicht hatte sich Gaitonde akut bedroht gefühlt, vielleicht war er einer Täuschung aufgesessen, oder vielleicht hatte er sogar den Verstand verloren. »Keine Bombe, Yaar.«
    »Verrückte Idee.«
    Kamble und Sartaj nickten sich zu. Dann kehrte Kamble auf seine Straßenseite zurück. Sartaj ging noch einmal im Zickzack zwischen den Häusern und Autos entlang. Ihm war klar, daß sie sich mit all ihren Überlegungen nur hatten beruhigen wollen, ihm war klar, daß sie beide Angst hatten. Sie waren Polizisten und wußten, daß sich Katastrophen nicht wie in Filmen ankündigten, nicht auf vorhersagbare Weise abliefen. Da war zum Beispiel der Fall jener Frau, die mit ihrer Familie auf den Jahrmarkt gegangen war. Die Kinder wollten auf das Riesenrad, also begleiteten die Eltern ihre abgöttisch geliebten Kleinen. Die Mutter war jung und hübsch und sehr stolz auf ihr langes, schimmerndes tiefschwarzes Haar. An diesem Sonntag trug sie es offen, eine duftende Kaskade, die ihr bis in die Taille fiel. Das Riesenrad trug sie hinauf, das Riesenrad beschleunigte, das Riesenrad ließ die Haare der Mutter fliegen, das Riesenrad wickelte eine Strähne um eine Speiche, das Riesenrad riß der Mutter die komplette Kopfhaut ab. Oder es erging einem wie jenem kurz vor dem Ruhestand stehenden Vater, der eines Tages wie gewohnt seinen Geschäften nachging, in aller Ruhe Gemüse und Schokolade kaufte, als plötzlich der Schraubenschlüssel eines Elektrikers aus dem siebzehnten Stock eines neuen Daihatsu-Gebäudes herunterfiel, er hüpfte über die Gerüstbretter nach unten und bohrte sich dem Mann in den Schädel. Das war in Worli passiert, als Sartaj gerade mal seit zwei Monaten Unterinspektor war. Genauso abrupt explodierten Bomben. Man spürte vor der Explosion nicht, daß sie da waren, man bekam keine Gänsehaut auf den Unterarmen, sie rochen nach nichts. Da war dieser Tag gewesen, dieser lang zurückliegende Freitag im Jahr 1993, als auf der Wache in Worli die Telefone nicht mehr stillgestanden hatten. Sartaj war auf seinem Motorrad losgerast, von einem Transporter gefolgt, war über Bürgersteige am stockenden Verkehr vorbei in Richtung des Paßamts gefahren. Überall ringsum waren Männer und Frauen, die gingen, rannten, wieder gingen. Und vor ihm dichter grauer Qualm, eine Stille ohne Vögel. Sartaj stellte das Motorrad ab und rannte die Straße entlang, an einem Fiat vorbei, der seine rostigen Innereien darbot, einer auf dem Rücken liegenden Krabbe gleich. Dann wurde es rutschig, er schaute hinunter und sah, daß er durch Blut lief.
    Hör auf. Hör endlich auf. Sartaj knackte mit den Fingergelenken, und das leise Geräusch holte ihn wieder zurück zum Apsara, zu Pyaar ka Diya und den zugehörigen Plakaten, auf denen das Hauptdarstellerpaar der klassischen Pose von Raj und Nargis in Awaara seine Reverenz erwies. Konzentrier dich auf das aktuelle Problem, ermahnte sich Sartaj. Tu deine Arbeit. Beobachte die Leute, schau dir die Gesichter genau an. Das tat er auch, doch es gelang ihm nicht, sich völlig von seinen Erinnerungen zu befreien. Zwischen den Trümmern verstreute Körperteile, ein Oberarm, ein Fuß. Ja, Bomben explodierten einfach so. Sie explodierten. Sartaj war am Ende seiner Strecke angekommen, machte kehrt.
    Kurz bevor die halbe Stunde um war, kam Kamble wieder zu ihm herüber. Die meisten Leute waren inzwischen vom Apsara verschluckt worden oder nach Hause gegangen, aber einige der Chokras streunten noch herum. Sartaj sah zu, wie Kamble über die Leitplanke in der Mitte der Straße stieg und machte sich Gedanken über dessen mangelnde Geduld. Kraft war nützlich, und Mut war manchmal notwendig, aber eine der vornehmlichen

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