Der Pate von Bombay
Shailendra ist also ein frommer Bursche. Sehr gut.«
»Er fängt an: ›Sehr geehrte Damen und Herren‹. Das hat er auf englisch geschrieben. Dann wechselt er zu Hindi über. ›Mein Name ist Shailendra. Ich bin in der zwölften Klasse. Ich habe beschlossen, Model zu werden. Ich bin achtzehn Jahre alt. Meine Körpergröße beträgt 1,78 m. Ich habe eine beeindruckende Persönlichkeit. In der Schule habe ich in vielen Theaterstücken mitgespielt.‹«
Jojo hielt inne. Ich wußte, worauf sie wartete: Ich sollte jetzt etwas Bissiges sagen, etwas Witziges über Shailendra, den Dorfschauspieler, der davon träumte, in der Großstadt über den Laufsteg zu schreiten. Dann würden wir zusammen lachen, wir beide, die wir unseren Gaons entkommen waren, und noch etwas weiterlesen. Doch heute war mir einfach nur traurig zumute bei dem Gedanken an Shailendra, den Helden seines Distrikts, der eine Persönlichkeit besaß, über die sich die Mädchen unterhielten, während sie durch die Felder gingen; vielleicht fuhr er manchmal sogar Motorrad, das Motorrad seines Onkels. Er war groß, und deshalb glaubte er, daß er nach Bombay gehen sollte. Um noch größer zu werden. »Jojo«, sagte ich. »Ich bin ziemlich müde. Ich glaube, ich sollte versuchen zu schlafen.«
»Jetzt schon?«
»Na ja«, sagte ich. »Vielleicht geht es mir morgen früh ja besser.« Ich zögerte, dann fragte ich: »Wie geht es dir, Jojo?«
Das verschlug ihr einen Moment lang die Sprache. Ich hatte ihr diese Frage noch nie gestellt. »Are, Gaitonde, bestens. Das Geschäft stagniert ein bißchen, aber schließlich stagniert die ganze Wirtschaft, keiner hat Geld. Ich komme schon zurecht.«
»Hast du einen Thoku?«
»Natürlich. Zwei. Du magst mit den Frauen fertig sein, aber ich habe für Männer immer noch die eine oder andere Verwendungsmöglichkeit.« Sie lachte ihr typisches Lachen, und diesmal entlockte sie mir ein kleines Lächeln. »Obwohl sie wirklich lästig sein können. Immer wollen sie dies oder das. Manchmal frage ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe mache. So gut wie mein Vibrator kann mich eh kein Mann befriedigen.«
jetzt mußte ich lachen. »Du bist schamlos.«
Das war sie wirklich. Später am Abend dachte ich über meine Freundin Jojo nach. Andere waren gekommen und gegangen, sie waren gestorben oder hatten mich verlassen, aber Jojo - der ich nie persönlich begegnet war, mit der ich nie zusammengegessen hatte, die ich nie berührt, nie gevögelt hatte - war immer noch bei mir. Manchmal vergingen Tage, ohne daß ich mit ihr redete, doch sie war immer bei mir. Sie war furchtlos, sie sagte mir, was sie von meinem Tun und Treiben hielt, sie beriet mich, sie hörte mir zu. Sie kannte mich, und in der schreckenserfüllten letzten Zeit war sie der einzige Mensch gewesen, den ich nie des Verrats verdächtigt hatte. Mir kam einfach nie der Gedanke, daß sie Informationen an die Killer hätte weitergeleitet haben können, obwohl sie mehr über mein Leben wußte als die meisten anderen. Ich zwang mich, objektiv über Jojo nachzudenken, sie von mir wegzurücken und so zu betrachten, wie ich eine Fremde betrachten würde: Sie war Geschäftsfrau, Produzentin, Zuhälterin, eine in ihrem Tun und Denken frivole Frau. Nach jeder vernünftigen Einschätzung also alles andere als vertrauenswürdig, doch ich vertraute ihr. Was immer ich mir auch vorstellte - daß sie es für Geld getan, mich unter den Drohungen meiner Feinde preisgegeben, es aus einer Laune heraus oder schlicht versehentlich getan hatte -, nichts konnte mein felsenfestes Vertrauen erschüttern. Ich gab den Versuch auf. Sie war Jojo, und sie war Teil meines Lebens, mit ihm verwachsen wie Sehnen mit den Knochen. Ich wußte nicht, wie oder wann es dazu gekommen war, aber ich wußte, daß ich ohne sie wie ein klappriger Knochenhaufen in mich zusammenfallen würde. Sie mußte in meinem Leben, mußte bei mir bleiben.
Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen und rief sie noch zweimal an. Sie erzählte mir mehr von ihren Thokus und brachte mich zum Schmunzeln. Dann war es vier Uhr morgens, ich lag immer noch wach, und es war zu spät, um sie ein weiteres Mal anzurufen. Guru-ji war auf Reisen und nicht erreichbar. Ich erwog, an Deck zu gehen, aber ich war total erschöpft, so müde, daß ich jedes Zucken in meinen Waden bis in die Oberschenkel hinein spürte. Der Wecker neben meinem Bett hatte sein rhythmisches Blinken zu einem sehr gemächlichen Puls verlangsamt, und dann stellte er es
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