Der Pate von Bombay
seine Schlüsselbeine hinab. Geh noch einmal die Informationen durch, ermahnte er sich. Doch es gab nicht viele: Zu den Apradhis gehörten möglicherweise ein berühmter Guru im Rollstuhl und ein blonder Ausländer, sie befanden sich möglicherweise in einem Haus mit Terrasse, das Haus war möglicherweise geräumig genug, um ein großes gefährliches Instrumentarium zu beherbergen, möglicherweise stand in der Nähe ein Lastwagen. Das war alles. Und davon hing alles ab. Keine Angst, sagte Sartaj zu sich selbst. Mach dich an die Arbeit. Mach dich einfach an die Arbeit.
Er rannte zu seinem Motorrad, schwang das Bein darüber und hielt dann wie gelähmt inne. Hatten die vergangenen Minuten wirklich stattgefunden? Alles, was sich in dem Auto abgespielt hatte, erschien ihm im nachhinein wie ein Film in ruckendem Zeitraffer. Er versuchte langsamer zu atmen und das Gespräch zu analysieren, es sich Stück für Stück zurückzurufen, aber er fand nur einen Wirrwarr einzelner Sätze und Wörter: »Es ist kein kleiner Sprengsatz«; »Sprengkraft«. Wie konnten Anjali und ihr Chef so ruhig und kühl von diesen Dingen sprechen? Vielleicht waren Menschen wie sie daran gewöhnt, von Unaussprechlichem zu sprechen. Vielleicht redeten internationale Spione immer so. Sartaj hatte schon früher an dieses Ding gedacht, diesen Sprengsatz, er war ihm in Büchern und Zeitungen begegnet, aber jetzt, da er sich in seiner Stadt befand, dort, wo er zu Hause war, versagte seine Vorstellungskraft. Er versuchte ihn vor sich zu sehen, eine technische Vorrichtung auf der Ladefläche eines Lastwagens, aber er sah nur Leere, ein Loch in der Welt. Und aus dieser Leere brach eine Lawine des Bedauerns hervor, ein brennender Schmerz in seinem Innern um alles, was ungetan blieb, um alle Erinnerungen an Vergangenes. Er beugte sich vor. In der silbernen Rundung des Lenkers spiegelte sich die Straßenlaterne, und er sah tausend Gesichter darin: einen Jungen, den er in der dritten Klasse verprügelt und vor der ganzen Schule gedemütigt hatte, Chamanlal, den Betelverkäufer an der Ecke zur Hauptstraße, ein schönes Mädchen, das im internationalen Flughafen bei Gulf Air arbeitete - Katekar hatte ihm einmal von ihr erzählt -, den gelähmten Bettler, der die Kreuzungen am Mahim Causeway abklapperte. Alles würde weg sein, nicht nur Freunde und Feinde. Alle. Das war die unerträgliche Verheißung dieses Sprengsatzes, die nun eingelöst werden sollte. Es war lachhaft, aber es war Realität. Sartaj saß auf seinem Motorrad und versuchte diese Realität zu erfassen, sie im Kopf zu behalten, damit er über sie nachdenken und entscheiden konnte, was als nächstes zu tun war. Schließlich - er wußte nicht, wie lange er dort gesessen hatte - gab er auf. Es war besser, die Leere sein zu lassen und um sie herum zu denken. Dann konnte man wenigstens arbeiten. Ja, arbeiten. Sich an die Arbeit machen. Er startete das Motorrad.
Drei Tage Arbeit und kein Durchbruch, keine Offenbarungen, keine Verhaftungen. Der Alarm war ausgelöst worden, aber man hatte zuwenig in der Hand. Allenfalls hätte man fragen können: Haben Sie eine Gruppe von drei, möglicherweise vier Männern gesehen? Einer davon ein blonder Ausländer, einer ein Guru im Rollstuhl? Man ging Hunderten von Hinweisen nach, aber alle führten zu harmlosen alten Männern in klapprigen Rollstühlen oder zu empörten ausländischen Managern mit kaum hellerem als braunem Haar. Man trat auf der Stelle. Und das Leben ging weiter. Am Dienstagabend fuhr Sartaj zu Rohit, Mohit und Shalini. Er gab Shalini einen Umschlag mit zehntausend Rupien, setzte sich in die Tür des Kholis und trank eine Tasse Chai.
»Sie sehen müde aus«, sagte Shalini. Sie begann mit der Zubereitung des Abendessens für die Jungen.
»Ja«, sagte Rohit, der neben Sartaj an der Wand lehnte. »Das stimmt.«
»Ich hab schlecht geschlafen. Zuviel Arbeit.«
Rohit wischte sich ein Stäubchen vom Halsausschnitt seines blütenweißen T-Shirts. »Sie sind auch so dünn.«
»Ich hab immer noch keine gute Köchin gefunden.«
Shalini lächelte. Sie sah gut aus in ihrem glänzenden grünen Sari. Sie warf Sartaj einen verschmitzten, wissenden Blick zu. »Was, diese Christin kocht nicht für Sie? Oder schmeckt Ihnen ihr Essen nicht?«
Sartaj zuckte zusammen, und der Tee schwappte ihm aus der Tasse über die Brust. »Welche Christin?« stotterte er und wischte sich das Hemd ab.
Rohit klatschte in die Hände. »Versuchen Sie's gar nicht erst«, sagte er
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