Der Pate von Bombay
dem Kanister war ein roter Totenkopf zu sehen. Und eine rote Ratte, die auf dem Rücken lag, tot, den Schwanz über sich eingerollt. »Fressen die das Getreide?« fragte ich Kirpal Singh. »Die Ratten?«
Er sah erleichtert aus, jetzt, wo die Jungs ins Auto einstiegen. »Ja, Saab.« Er versuchte seine vorherige Unhöflichkeit wettzumachen. »Nicht nur den Weizen. Die fressen alles. Auch die Stromkabel, da nagen sie das Plastik ab. Die sind nicht aufzuhalten.«
»Bringen Sie sie alle um«, sagte ich, und nun lächelte er sogar. Ich stieg ein, und wir fuhren weg.
Nikhil schaute in den Rückspiegel. »Was meinen Sie, Saab?«
»Da ist was faul.«
»Ja. Wenn das nur ein Bauernhof wäre, würde dieser Kerl nicht dermaßen die Zähne zeigen.«
Wir hatten uns das Haus oberflächlich angeschaut und nichts gefunden. Lohnte es sich, noch einmal herzukommen und sich mit Kirpal Singh herumzuschlagen, damit wir es gründlich durchsuchen konnten? Ich fühlte mich seltsam mutlos. Die Straße zog sich dahin - vielleicht war es besser, ihr wieder bis nach Amritsar zu folgen, von dort aus nach Delhi zu fliegen und dann weiter nach Bangkok, um zu meinem normalen Leben zurückzukehren. Aber das wäre unerträglich. Ich hatte kein normales Leben, zu dem ich zurückkehren konnte, jedenfalls nicht, solange ich Guru-ji nicht gefunden hatte. Selbst jetzt noch, bei all meiner Wut auf ihn, wollte ich eigentlich nichts anderes, als wieder zu seinen Füßen zu sitzen. Ich mochte ihn verfluchen, einen Schwindler schimpfen, behaupten, ich sei fertig mit ihm, doch in Wirklichkeit wollte ich einfach nur wieder seine gewölbte Hand auf meinem Kopf spüren, den Segen seiner Stimme empfangen. Ich hatte Fragen. Ich wollte erfahren, warum er weggegangen war, warum Gaston und Pascal gestorben waren, was er uns hatte transportieren lassen, was er tat, was er plante. Irgendwie lag in diesen Fragen der Sinn meines Lebens verborgen. Doch wenn er sich weigerte, auch nur eine meiner Fragen zu beantworten, würde ich auch das akzeptieren, Hauptsache, er kam zurück. Hauptsache, er ließ mich nicht so weiterleben, allein, ohne ihn, ohne seine Fürsorge und Führung. Ich mußte ihn finden. Doch Guru-ji war zu weit fortgeschritten, zu weit in seinem Sein verwirklicht. Mochte ich in meinem Leben auch noch so viele Lektionen gelernt haben, mochte ich auch noch so gerissen sein, ich würde ihn niemals finden. Ich konnte die Sache auf sich beruhen lassen, konnte weiterfahren, fort von hier. Aber warum hatte ich solche Angst? Wenn ich in meinem Leben irgend etwas gelernt hatte, dann meiner Angst zu vertrauen. Andererseits war ich sterbensmüde. Die Straße erhob sich über die Felder, Wellen tiefen Grüns folgten stetig aufeinander. Ich könnte schlafen. Die Stromkabel schwangen sich sanft hinauf und hinab. Sie kamen auf mich zu, von der sinkenden Sonne mit Lichtdiamanten behängt. Die Ratten fraßen sie. Die Ratten fraßen Kabel.
»Halt an«, sagte ich.
»Bhai?«
Das Auto kam neben dem Kanal zum Stehen. Über dem Gurgeln des Wassers hörte ich, wie ein leiser Wind durch die wogenden Getreidehalme strich. Ich drehte mich auf dem Sitz um und schaute zurück auf die hinter uns liegende Straße und die in der Ferne verschwindenden Strommasten. An einer Stelle zweigte eine Kette von Masten ab und führte, durch die Felder und an der Mangoplantage vorbei, zu Guru-jis Hof. Genau: Dort auf dem Dach stand ein Mast, in den drei Stromleitungen mündeten. Wozu brauchte dieses altmodische Haus mit seinen quietschenden Tischventilatoren so viel Strom? In den Innenräumen hatte ich nirgends Stromleitungen gesehen, was also fraßen die Ratten da?
Ich wandte mich wieder zu Nikhil um und legte ihm meine Überlegungen dar. »Schon richtig, Bhai«, sagte er. »Aber vielleicht brauchen die den Strom für die Bewässerung. Für Wasserpumpen und so was.«
Vielleicht. Vielleicht. Aber da war eben auch noch dieses neue Haus, das bloß so aussah, als wäre es alt. »Dreh um«, sagte ich. »Wir fahren zurück.«
Und so sausten wir abermals an der Mangoplantage vorbei, während der Abend sich niedersenkte. Diesmal kam Kirpal Singh heraus und nahm uns in Empfang. Er stellte sich mit gespreizten Beinen mitten auf die Straße. Nikhil hielt an, und wir stiegen alle aus. »Are«, sagte ich. »Haben Sie vielleicht meine Brille gefunden? Eine schwarze.«
»Nein«, sagte er. »Keine Brille.«
»Ich würde gern mal nachschauen«, sagte ich. »Vielleicht liegt sie noch auf dem Dach.«
Kirpal
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