Der Pathologe
Raumprobleme – ach ja, die Chirurgen haben deine Suite bekommen, nicht wahr?«
»Zweckdienlichkeit siegt über Tugend.«
»Wie bitte?«
»Nimm Platz. Wie geht’s Doug?«
Ramirez zog sich einen Sessel heran. »Nicht so toll. Wenn seine Milz nicht kleiner wird, werden wir sie rausnehmen. Dazu kann es jederzeit kommen, wir beobachten sie genau. Die idiopathische Reaktion auf die Chemo geht zurück – worum auch immer es sich handelte.« Der Onkologe rutschte tiefer in seinen Sessel und streckte die Beine aus. Sein Hemd war zerknittert. Unter seinen Achselhöhlen zeichneten sich Schweißflecken ab. »Das ist das Angenehme an Fällen wie dem hier. Sie sorgen dafür, dass du demütig bleibst.«
»Wenn du nicht seinen Ewing behandelt hättest, wäre er tot. Dann gäbe es keine Frau, und ein Baby wäre auch nicht unterwegs.«
»Du sprichst wie ein wahrer Therapeut … ja, du hast Recht. Ich weiß zu schätzen, dass du das sagst. Trotzdem wäre es nett, wenn man niemandem das Leben versaut.«
»Dann solltest du vielleicht Gedichte schreiben.«
Ramirez lächelte. »Na ja, das ist jedenfalls nicht der Grund, warum ich hier bin. Die Pathologen haben es noch immer nicht geschafft, die Leukämie genau zu bestimmen. Jetzt sagen sie mir, es könnte eine Mischung aus lymphatischer und myelozytischer oder vielleicht keins von beidem sein. Es könnte zugleich akut und chronisch sein – das Knochenmark des Jungen ist in einem schrecklichen Zustand. Ich hab die Proben nach L.A. und Boston geschickt, weil sie dort mehr von diesen seltsamen Fällen zu sehen bekommen als wir hier. Das Entscheidende ist, dass wir feststellen, in welches Protokoll er reinpasst, aber wenn das nicht geht und wir nur generell draufhalten, verringern wir unsere Chance auf eine Anfangsremission.« Er machte einen tiefen Atemzug. »Kann ich einen Schluck von dem Kaffee haben?«
»Auf eigene Gefahr«, erwiderte Jeremy.
»Dann vergiss es. Was ich dir eigentlich sagen wollte: Es besteht die Möglichkeit, dass unser Mr. Vilardi sich einer Knochenmarkstransplantation unterziehen muss. Wir haben die Blutgruppen der ganzen Familie bestimmt, die Mutter war ein bisschen nervös, aber ich hab das bloß für die allgemeine Besorgnis gehalten. Es hat sich rausgestellt, dass sie und einer der Brüder hervorragende Spender sind.« Er runzelte die Stirn.
»Noch eine Situation mit einer guten und einer schlechten Nachricht?«, fragte Jeremy.
»Du kannst tatsächlich Gedanken lesen.« Ramirez atmete durch. »Die schlechte Nachricht ist, Doug ist nicht der biologische Sohn seines Vaters.«
»Okay«, sagte Jeremy.
»Du bist nicht überrascht?«
»Das bin ich, aber nicht sehr. Menschen sind nun mal so.«
»Mann«, sagte Ramirez, »ich wünschte, du wärst
mein
Dad. Meine Pubertät wäre verdammt viel einfacher gewesen. Okay, das ist also das große Geheimnis. Die Frage ist, was tun wir in der Sache?«
»Nichts«, antwortete Jeremy.
»Schlicht und einfach?«
»Schlicht und einfach.«
»Du hast Recht«, sagte Ramirez. »Ich wollte es nur aus deinem eigenen Mund hören. Dass noch jemand so denkt wie ich.« Er stand auf. »Okay, prima, vielen Dank.«
»Sonst noch was, Bill?«
»Reicht das nicht für heute?«
Jeremy lächelte.
»Ich bin froh, dass du meine instinktive Reaktion bestätigt hast«, sagte Ramirez. »Doug ist erwachsen und hat ein Recht auf seine Krankenakte, aber ich werde den Teil des Berichts vernichten. Für den Fall, dass jemand reinguckt.«
Er sah Jeremy an.
»Auch in dieser Beziehung denke ich so wie du«, erklärte Jeremy.
»Es ist das Beste«, sagte Ramirez. »Ich hab dem Jungen schon genug Schaden zugefügt.«
Am Nachmittag setzte sich Jeremy an Dougs Bett, nachdem er seine anderen Patienten besucht hatte. Familienmitglieder waren keine in der Nähe. Sie kamen in der Regel zwei Stunden später, und Jeremy hatte die Zeit seines Besuchs gut geplant. Er wollte Mrs. Vilardi nicht in die Augen sehen.
Doug schlief bei laufendem Fernseher. Eine Sitcom plärrte – Leben in der Kleinstadt, blöde Witze, Hollywoods Blick auf joviale Schwachköpfe, die zum eingespielten Gelächter auf der Bühne agierten. Jeremy ließ die Serie an, stellte das Gerät aber leiser und konzentrierte sich auf Dougs verquollenes, gelbsüchtiges Gesicht und seine großen, schwieligen Arbeiterhände, die unbeweglich dalagen. Das Konservengelächter begann ihm auf die Nerven zu gehen, und er schaltete den Fernseher aus und lauschte dem Ticken, Gurgeln und Zwitschern,
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