Der Pathologe
könnte so enden wie Arthur.
Er riss sich von all diesen Hirngespinsten los und suchte Zuflucht in dem kalten Trost der Kalkulation: Ramona Purveyance war mindestens Mitte sechzig, also dürften ihre Kinder höchstwahrscheinlich irgendwann vor rund dreißig bis fünfundvierzig Jahren geboren worden sein.
Arthur war wie alt – siebzig? Nach Medizinstudium und Dienstzeit bei der Army wäre er an die dreißig gewesen, als er am City Central als Geburtshelfer anfing.
Jeremy entschied sich dafür, vierzig Jahre zurückzugehen, und gab »Chess-Morde« als Suchbegriff ein.
Er benutzte den Plural, weil es mehr als einen Toten gegeben hatte. Die Suchmaschine war nicht schlau genug, nach eigenem Ermessen zu handeln; vielleicht hatte er deshalb bei seiner ersten Suche eine Niete gezogen.
Nichts.
Wie wär’s mit »Mord an Chess-Familie«?
Endlich.
Vor siebenunddreißig Jahren. Ein extrem trockener Juli.
DREI LEICHEN IN DEN TRÜMMERN EINER SOMMERHÜTTE GEFUNDEN
Eine Hütte in der Nähe des Lake Oswagumi im Erholungsgebiet Highland Park verwandelte sich gestern Morgen vom Schauplatz einer Brandstiftung zum Tatort mehrerer Morde, nachdem in den verkohlten Trümmern drei Leichen entdeckt worden waren.
Die Überreste wurden als diejenigen von Mrs. Sally Chess, einer jungen Mutter, und ihren beiden Kindern Susan, 9, und Arthur Chess jun., 7, identifiziert. Arthur Chess sen., ein Arzt am City Central Hospital, befand sich nicht in der gemieteten Hütte, als diese ein Opfer der Flammen wurde. Dr. Chess war zum Krankenhaus gerufen worden, um in einem Notfall einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Er gab an, in einem Lokal in der Nähe des Krankenhauses ein Bier getrunken zu haben, bevor er die sechzig Meilen zurück in den Highland Park fuhr.
Die Ermittler des Sheriffs haben Grund zu der Annahme, dass Mrs. Chess ermordet und das Feuer in der Absicht gelegt wurde, das Verbrechen zu vertuschen. Beide Kinder sind wahrscheinlich im Schlaf gestorben. Die Ermittler erklären weiterhin, dass Dr. Chess zwar befragt wurde, aber derzeit nicht als Verdächtiger in Betracht gezogen wird.
Der letzte Satz erinnerte Jeremy an etwas anderes, das er kürzlich gelesen hatte. Der Bericht über den Mord an Robert Balleron. Die Richterin war befragt worden, aber die Polizei hatte darauf bestanden, dass sie nicht als Verdächtige betrachtet würde.
Bedeutete das genau das Gegenteil? Dass Tina und Arthur wussten, wie es sich anfühlte, wenn Kummer durch Verdächtigungen vergiftet wurde?
Arme Tina. Armer Arthur.
Der alte Mann hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, und Jeremy hatte so getan, als sei er nicht interessiert.
Das war vorbei. Er gehörte
dazu
.
Als Nächstes gab er »Insel Kurau« als Suchbegriff ein. Das ergab nur einen Treffer, eine Agenturmeldung, die einundfünfzig Jahre alt war.
KANNIBALEN AUF DEM VORMARSCH!
Kurau, eine kleinere Insel unter den tausenden des indonesischen Archipels, die vor der Befreiung durch die Alliierten von den Japanern besetzt war und jetzt von verschiedenen Eingeborenenstämmen beansprucht wird, erlebte einen Rückfall in längst überwunden geglaubte primitive Bräuche, als plündernde Banden verschiedener Gruppierungen mit Macheten und konfiszierten japanischen Armeesäbeln in gegnerischen Dörfern ihre blutige Spur zogen, die Bewohner verstümmelten, ihnen die Bäuche aufschlitzten und mit aufgespießten Köpfen durch den Dschungel marschierten. Berichte von Freudenfeuern geben Anlass zu der Vermutung, dass der Kannibalismus, einst in diesem Teil der Welt an der Tagesordnung, eine hässliche Wiederkehr erlebt. Eine kleine Abteilung amerikanischer Truppen und einige Diplomaten verbleiben auf der Insel, um den Übergang vom Besatzungsrecht zur Selbstverwaltung zu regeln. Das Außenministerium hat ein Merkblatt für Reisende herausgegeben, in dem alle Bürger der Vereinigten Staaten aufgefordert werden, die Region zu meiden, bis die Ordnung wiederhergestellt ist.
Das Telefon klingelte.
»Hast du Zeit«, fragte Bill Ramirez, »mit mir über Doug Vilardi zu reden?«
»Klar. Wie geht es ihm?«
»Können wir unter vier Augen darüber sprechen? Tu einfach so, als wäre ich ein Patient.«
Ramirez stand fünf Minuten später außer Atem vor der Tür von Jeremys Büro. »Du bist nicht leicht zu finden – haben dich deine Kollegen ins Exil geschickt?«
»Platzprobleme. Ich hab mich freiwillig gemeldet.«
»Ein bisschen düster«, sagte Ramirez. »Andererseits hast du deine Ruhe …
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