Der Pathologe
er war, wie rücksichtsvoll und einfühlsam. Wie er immer besonders nett zu ihr war. Die andere Schwester versuchte einen Scherz darüber zu machen. Etwas in der Art, du kennst doch diese Psychofritzen, die lernen es im Studium, einfühlsam zu sein. Jocelyn wollte nichts davon hören, schnitt ihr das Wort ab und sagte: ›Mach keinen Witz daraus, ich meine es ernst. Ich meine es ernst mit ihm.‹ Ich weiß noch, wie ich dachte, was für ein Typ wohl so eine Reaktion auslösen könnte. Ich wusste nicht, dass du es warst. Selbst als wir schon miteinander ausgingen, hatte ich keine Ahnung. Ich hab dich nur gemocht, weil du bei deinem Vortrag, den du uns gehalten hast, so ernsthaft warst. Als es darum ging, was du tust – der Versuch, die Menschlichkeit in jedem Einzelnen zum Vorschein zu bringen. Das war die Botschaft, die ich hören wollte, als ich Assistenzärztin wurde, die ich aber nur selten zu hören bekam. Erst nachdem wir schon ein paarmal miteinander ausgegangen waren, sagte mir jemand – eine der anderen Assistenzärztinnen –, dass du Jocelyns Freund gewesen bist. Ich weiß noch, wie ich dachte: ›Oje, das wird sicher kompliziert.‹ Aber ich mochte dich und … Oh, Jeremy, ich bin nicht gut in so was.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter.
»Inwiefern kompliziert?«, fragte er.
»Deswegen.«
»Das wird kein Problem sein. Keine Tabus, keine Verbote. Wenn du willst, dass ich über Jocelyn rede, dann werde ich …«
»Das reicht schon«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich … du hast sie offensichtlich sehr geliebt, sie ist immer noch ein Teil von dir, und das ist gut so. Wenn du sie einfach vergessen könntest, fände ich das abstoßend. Aber der egoistische Teil von mir weiß einfach nicht, ob ich mit … der Erinnerung an sie umgehen kann. Die über uns hängt. Es ist so, als ob man eine Anstandsdame dabeihätte – ich weiß, das klingt schrecklich, aber …«
»Die Erinnerung hängt über mir, nicht über uns«, sagte Jeremy. »Jocelyn ist verschwunden. In einem Monat wird sie noch mehr verschwunden sein, und in einem Jahr noch mehr, und eines Tages werde ich kaum noch an sie denken.« Die Augen taten ihm weh. Jetzt waren
ihm
die Tränen gekommen. »Mit dem Verstand weiß ich das alles, aber meine verdammte Seele hat sich noch nicht darauf eingestellt.«
Sie betupfte seine Augen mit den Fingern. »Ich wusste gar nicht, dass die Psychologen an die Seele glauben.«
Tun sie nicht.
»Es braucht seine Zeit«, sagte Jeremy. »Eine Abkürzung gibt es nicht.« Er sah sie an.
Angela küsste ihn auf die Stirn.
Jeremy schlang die Arme um sie. Sie fühlte sich klein an. Er wollte gerade ihr Gesicht anheben, um ihr einen Kuss zu geben, als ein schlaksiger Teenager, vermutlich der Enkel von irgendjemandem, aus einem Krankenzimmer kam, zu dem Kaffeeautomaten schlenderte, sie erblickte und anzüglich grinste.
»Gib Gas, Mann«, murmelte der Junge, während er seine Münzen in den Schlitz warf.
Angela lachte Jeremy ins Ohr.
Sie gingen in sein Büro und verbrachten dort noch eine Viertelstunde; Angela saß still auf Jeremys Schoß, den Kopf an seine Brust gelehnt. Das Kofferradio, das Jeremy selten anstellte, spielte langweiliges Zeug, das sich selbst als »Soft-Jazz« bezeichnete. Angelas Atemzüge wurden langsamer, und er fragte sich, ob sie eingeschlafen war. Als er den Kopf senkte, um nachzusehen, gingen ihre Augen auf, und sie sagte: »Ich muss wirklich wieder zurück.«
Als sie auf der Endokrinologie ankamen, erklärte eine Schwester mit einem Backpflaumengesicht: »Da wartet ein Katheter auf Sie, Dr. Rios«, und ging davon.
»Es geht doch nichts über ein herzliches Willkommen«, sagte Jeremy.
Angela lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Es wird Zeit, ein paar Leitungen zu verlegen – Jeremy, vielen Dank. Dafür, dass du die Initiative ergriffen hast. Ich weiß, dass das nicht leicht war.«
»Wie gesagt, du bist mir wichtig.«
Sie spielte mit ihrem Stethoskop, trat mit einem Schuh gegen den anderen – die Geste eines kleinen Kindes, bei der sich Jeremys Brust zusammenzog. »Du bist
mir
wichtig, und ich wünschte, wir könnten ein bisschen Zeit miteinander verbringen, aber ich habe die beiden nächsten Nächte Bereitschaft.«
Ich auch.
»Fassen wir ein Mittagessen ins Auge«, sagte er.
»Tun wir das. Mann.«
45
Händchenhalter am Tag, Voyeur mit Illusionen in der Nacht?
An zwei aufeinander folgenden Abenden war Theodore Gerd Dirgrove vom Krankenhaus direkt nach Hause
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