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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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die halbe Nacht wach zu sein. Stattdessen schlief er schnell ein, wachte aber in den frühen Morgenstunden mit klopfendem Herz und schmerzenden Muskeln auf, das Gehirn voll von Bildern gieriger, menschenfressender Käfer.
    Lass mich in Ruhe, alter Mann.
    Was Arthur auch tat.
    Als Jeremy kurze Zeit nach ihrem Treffen im Excelsior auf der Psycho-Runde mittrottete, hörte er seinen Namen durch die Krankenhaus-Lautsprecher. Er riss sich von der geistigen Gesundheitsarmee los, rief die Zentrale an und erfuhr, dass Dr. Angela Rios ihn um Rückruf bat.
    Während der vergangenen paar Wochen hatte die junge Assistenzärztin bei mindestens vier zufälligen Begegnungen auf den Krankenhausfluren versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Angela hatte einen scharfen, raschen Verstand und ein weiches Herz, und sie war wirklich ausgesprochen hübsch. Exakt der Typ Frau, auf den Jeremy fliegen würde, wenn ihm der Sinn nach Frauen gestanden hätte.
    Bedacht darauf, sie nicht zu verletzen, hatte er gelächelt und war weitergegangen.
    Und jetzt dies.
    Als er sie anrief, sagte Angela: »Ich bin froh, dass Sie Dienst haben. Ich habe einen Problemfall – eine sechsunddreißig Jahre alte Frau mit Lupus in offenbarer Remission, aber jetzt sieht ihr Blutbild erschreckend aus, und wir müssen eine Knochenmarkspunktion vornehmen.«
    »Leukämie?«
    »Hoffentlich nicht. Aber ihre Werte sind auf eine bedrohliche Weise verändert, und ich wäre von allen guten Geistern verlassen, wenn ich dem nicht nachgehen würde. Das Problem ist, sie hat ernsthafte Schwierigkeiten mit medizinischen Prozeduren – sie hat panische Angst. Ich habe ihr angeboten, sie zu sedieren, aber sie sagt Nein; da der Lupus jetzt im Rückzug begriffen ist, befürchtet sie, dass ihr Körper verrückt spielt, wenn sie irgendwelche Medikamente nimmt. Könnten Sie mir helfen? Sie hypnotisieren, mit ihr reden, alles was sie beruhigt? Ich hab gehört, Sie machen das.«
    »Klar«, sagte Jeremy.
    Die erste Patientin, der er bei einem klinischen Verfahren »geholfen« hatte, war ein zwölfjähriges Mädchen mit einem resezierten Gehirntumor – einem malignen Gliom – gewesen, bei dem eine Lumbalpunktion vorgenommen werden sollte. Der Chefarzt der Psychiatrie hatte Jeremys Namen dem Neurochirurgen gegeben, der um die Konsultation nachgesucht hatte, und es hatte kein Zurück gegeben.
    Als er in dem Behandlungsraum ankam, fragte er sich:
Was erwartet man von mir?
Fand das Mädchen an die Bahre geschnallt vor, mit den Füßen ausschlagend, schreiend und mit Schaum vor dem Mund. Seitdem man den Tumor aus ihrem Schädel entfernt hatte, waren sechs Monate vergangen, und ihre Haare waren zu einem sieben Zentimeter langen Flaum nachgewachsen. Tintenstriche auf ihrem Gesicht und ein gelblicher Teint verrieten, dass man sie vor kurzem einer Strahlenbehandlung unterzogen hatte.
    Zwölf Jahre alt, und man hatte sie gefesselt wie einen Schwerverbrecher.
    Ein frustrierter Assistenzarzt im zweiten Jahr hatte gerade angeordnet, sie zu knebeln. Er begrüßte Jeremy mit gefurchter Stirn und einem Schnauben.
    »Warten wir damit noch«, sagte Jeremy und nahm das Mädchen bei der Hand. Spürte einen jähen Schmerz, als sich ihre Fingernägel in seine Handfläche gruben und er zu bluten begann, schaute in ihre von panischer Furcht verstörten Augen und versuchte nicht zusammenzuzucken, als sie kreischte:
»Neinneinneinneinneinneinnein!«
    Seine Achselhöhlen waren im Nu schweißnass, seine Eingeweide gerieten in Bewegung, und ein Schwindelgefühl überkam ihn.
    Er stand erstarrt neben der Bahre, während sich die Nägel des Mädchens tiefer in seine Hand gruben. Sie heulte auf, er schwankte. Sein linker Fuß rutschte allmählich unter ihm …
    Er wurde ohnmächtig – verdammte Scheiße!
    Der Assistenzarzt starrte ihn an.
Jeder
starrte ihn an.
    Er riss sich zusammen. Atmete tief und, wie er hoffte, unauffällig durch.
    Das Mädchen hörte auf zu schreien.
    Sein Dickdarm stand kurz vor der Explosion, und das Hemd klebte ihm am Rücken, aber er lächelte auf sie herab, nannte sie »Schätzchen«, weil er ihren Namen vergessen hatte, obwohl er gerade erst das verdammte Krankenblatt gelesen hatte.
    Sie starrte ihn an.
    Oh, Herr im Himmel,
glaub an dich
.
    Der Raum verschwamm vor seinen Augen und begann zu schimmern, und er spürte, wie seine Knie erneut nachgaben. Er richtete sich auf und begann mit dem mittlerweile stillen Mädchen zu reden. Er lächelte und redete, intonierte, leierte monoton, gab

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