Der Pathologe
Zorn der Patientin ein Gefühl der Überlegenheit verlieh und ihre Panik reduzierte, die auf ein Gefühl niederschmetternder Verletzlichkeit zurückging.
Trotzdem war es nicht leicht, in dem Saunders-Mädchen aus psychotherapeutischer Perspektive etwas anderes als einen Fehlschlag zu sehen. Wie lange war er bei ihr gewesen? Fünf, zehn Minuten?
»Dirgrove hörte sich ziemlich zufrieden an«, sagte Angela.
Er vermutete, dass sie vielleicht Recht hatte. Er hatte Fälle erlebt, wo Patienten sich mehrere Jahre nach der Behandlung bei ihm gemeldet hatten, um ihm zu danken. Manche ließen keinen Zweifel daran, was ihnen geholfen hatte.
Dinge, die er gesagt hatte. Oder nicht gesagt hatte. Bestimmte Wörter oder Wendungen, die den entscheidenden Beitrag dazu geleistet hatten, sie über den therapeutischen Rand zu stoßen.
In jedem Fall war die »Heilung« unbeabsichtigt gewesen. Er hatte keine Ahnung, dass er die magische Kugel abgefeuert hatte.
Dann wiederum gab es die Fälle, wo er auf jede Technik in seiner großen Psychokiste zurückgegriffen hatte und trotzdem auf die Nase gefallen war.
Was für einen Schluss sollte er daraus ziehen? Dass er ein Bauer war und kein König?
Was für eine seltsame Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
»Ich glaube«, sagte Angela, »dass du dein Licht manchmal unter den Scheffel stellst.«
»Glaubst du das wirklich?« Er küsste sie auf die Nase.
»Ja.« Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar.
»Du bist eine nette Frau.«
»Manchmal.«
»Anders habe ich dich nicht erlebt.«
»Ha«, sagte sie.
»Versuchst du, mir Angst einzujagen?«
»Nein«, antwortete sie und wurde plötzlich ernst. Sie presste ihre Wange an seine. Ihr Atem war warm, leicht und süß vom Alkohol. »Das würde ich nie tun. Ich würde nie etwas tun, das uns auseinander bringt.«
23
Das Treffen der Tumor-Kommission war für diese Woche abgesagt worden. Am nächsten Dienstag stand Arthur wieder am Pult und schmiss den Laden.
Jeremy kam spät und musste mit einem Platz in einer der hinteren Reihen vorlieb nehmen. Der Raum war dunkel – Dias, die ganze Zeit Dias – und blieb es auch den größten Teil der Stunde. Der sonore Bariton des alten Mannes schwärmte von mediastinalen Teratomen.
Aber als das Licht anging, war Arthur verschwunden, und Dr. Singh hatte seinen Platz eingenommen und erklärte: »Dr. Chess musste früher gehen, weil er noch eine anderweitige Verpflichtung hat. Fahren wir fort.«
In den abschließenden zehn Minuten fand eine angeregte Debatte über die Durchlässigkeit von Zellwänden statt. Jeremy hatte Schwierigkeiten, wach zu bleiben, schaffte es aber, indem er sich Vorwürfe machte:
Zumindest handelt es sich hierbei um Wissenschaft und nicht um einen Zufallsprozess, wo der so genannte Fachmann keinen blassen Schimmer hat.
Am nächsten Tag kam der dritte Briefumschlag. Jeremy war fast mit einem Rohentwurf seines Kapitels fertig und fühlte sich ziemlich obenauf. Der Anblick von »Otolaryngologie« als Absenderkennung ließ seine Finger auf der Tastatur erstarren.
Er dachte daran, ihn ungeöffnet wegzuwerfen. Konnte der Versuchung nicht widerstehen und riss den Umschlag so heftig auf, dass die kleine Metallklammer davonflog.
Drinnen befand sich keine Kopie eines medizinischen Artikels. Stattdessen zog Jeremy einen vergilbten Zeitungsausschnitt heraus, der sich an den Kanten bereits auflöste. Da der Artikel ein ganzes Stück unter dem oberen Rand abgeschnitten war, war der Name der Zeitung nicht zu erkennen, aber der Tonfall und der Schauplatz legten nahe, dass es sich um ein britisches Boulevardblatt handelte.
FREUNDIN DER VERSCHWUNDENEN BRIDGET
ERMORDET AUFGEFUNDEN
Vor zwei Jahren verschwand die hübsche Bridget Sapsted spurlos, nachdem sie einen Pub in Broadstairs, Kent, in dem sie als Kellnerin arbeitete, mitten in der Nacht verlassen hatte. Trotz ausgedehnter polizeilicher Ermittlungen wurde nie festgestellt, welches Schicksal dem liebenswürdigen Mädchen zugestoßen war. Jetzt wurde eine enge Freundin der hübschen Brünetten brutal ermordet, und die Polizei bemüht sich herauszufinden, ob das Schicksal des einen Mädchens mit dem des anderen in Verbindung steht.
Der Fall nahm eine grausige Wendung, als heute am frühen Morgen die Leiche der 23-jährigen Suzie Clevington von einem Mann entdeckt wurde, der auf dem Weg zur Arbeit am Stadtrand von Broadstairs war. Suzie und die lebhafte Bridget waren Klassenkameradinnen an der Belvington School in
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