Der Pathologe
habe – ich verspreche dir, mich zu bessern, wenn der Druck nachlässt.«
»Du bist gut genug.«
»Nett, dass du das sagst – jetzt, wo du auch diese Seite von mir zu Gesicht bekommst.«
»Welche Seite?«
»Mein obsessiver Ehrgeiz. Mein Vater hat mich immer damit aufgezogen. ›Mit wem rennst du um die Wette, Prinzessin?‹ Rein verstandesmäßig weiß ich, er hat Recht, aber die Sache ist die, ich hab wirklich das Gefühl, mich in einem Wettrennen zu befinden. Gegen die Zeit – gegen die Zeit, wenn dein Verstand und dein Körper nachlassen und den Dienst verweigern und du schließlich unter der Erde liegst. Ganz schön morbid, oder?«
»Vielleicht verbringst du zu viele Stunden auf den Stationen«, sagte Jeremy.
»Nein, ich bin schon immer so gewesen. Wenn die Aufgabe darin bestand, ein Bio-Referat von fünf Seiten zu schreiben, hab ich sieben abgegeben. Wenn der Sportlehrer sagte, zehn Mädchen-Liegestütze, hab ich Jungs-Liegestütze gemacht und versucht, zwanzig hinzulegen. Ich bin sicher, zum Teil handelt es sich um eine zwanghafte Verhaltensstörung. Als ich acht war, hab ich eine Zeit lang ein Ritual befolgt – ich hab mein Zimmer eine Stunde lang untersucht, bevor ich schlafen ging. Meine Schuhe ausgerichtet. Niemand wusste Bescheid. Wenn meine Mutter mich zu Bett gebracht hatte, bin ich heimlich wieder aufgestanden und habe das ganze Theater durchgezogen. Wenn mich etwas unterbrochen hat, hab ich wieder von vorn angefangen.«
»Wie hast du aufgehört?«
»Ich hab mir selbst gesagt, dass es Quatsch war, und hab zitternd unter der Decke gelegen, bis der Drang vorbei war. Monatelang hat mich diese Zwangsvorstellung geplagt, aber ich hab ihr nicht nachgegeben. Mit zwölf Jahren habe ich ein Magengeschwür bekommen. Der Arzt – und meine Eltern – bestand darauf, dass es sich um eine bakterielle Infektion handelte. Sie haben mich mit Antibiotika behandelt, und ich wurde wieder gesund. Aber trotzdem … jetzt kennst du meine ganze erbärmliche Vergangenheit. Irgendwelche analytischen Erkenntnisse, Dr. Carrier?«
Er schüttelte den Kopf.
»Im Ernst«, sagte sie. »Was hältst du davon?«
»Hast du jemals einen Menschen verloren, der dir nahe stand?«
»Meine Oma. Ich war sechs, und sie war alt und krank, aber wir standen uns nahe … es war ein Schock für mich. Die Tatsache, dass ich sie nie wiedersehen würde.«
Jeremy nickte.
»Willst du also damit sagen, dass dieser Verlust so gravierend war, dass er mich dem Tod gegenüber traumatisiert hat? Seinem Wesen gegenüber – seiner Unerbittlichkeit? Und jetzt muss ich wie ein kopfloses Huhn durchs Leben rennen und Erfahrungen aufeinander stapeln?«
»Ich hab eher an einen vorzeitigen Tod gedacht. Jemand, der zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Aber natürlich. Wenn der Tod deiner Großmutter ein Schock für dich war, könnte er dich auf diese Weise beeinflussen. Traumatischer Verlust kann das zur Folge haben. Die Unwiderruflichkeit des Verschwunden-Seins.«
»Das Verschwunden-Sein.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Dein Umgang mit Worten. Apropos, wie geht’s mit deinem Kapitel voran?«
»Qualvoll.«
»Das wird schon werden.« Angelas Blick richtete sich in die Ferne. »Vielleicht hast du Recht. Ich weiß nicht.« Sie sah zu Boden und senkte die Stimme. »Vorzeitiger Tod. Das hast du bereits durchgemacht.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jeremy lauter, als er beabsichtigt hatte.
»Du weißt schon.«
Jeremy starrte sie an. Er wusste, dass er sie wütend anfunkelte, konnte aber nicht aufhören.
»Wechseln wir das Thema«, sagte er.
Sie wurde blass. »Klar, tut mir Leid, vergiss, dass ich es erwähnt habe.«
»Macht nichts«, sagte er, aber sein Herz raste – und er musste hier raus.
So nahe wir uns auch inzwischen sind, es gibt Dinge, an die sie nicht rühren darf. Über manche Dinge will ich nicht mit ihr reden.
»Jeremy?«
»Ja?«
»Es tut mir Leid.«
»Es gibt nichts, was dir Leid tun müsste.«
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich weiß nicht genau, wann ich wieder Zeit habe.«
»Hast du heute Nacht Bereitschaft?«
»Nein, aber ich muss früh ins Bett. Ich fühle mich immer noch irgendwie kaputt – vielleicht bin ich die Grippe noch nicht ganz los.«
»Soll ich dich nach oben auf die Station bringen?«
»Nein, ist schon gut.«
»Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Am nächsten Nachmittag rief sie an, um ihm zu sagen, dass sie in der Chirurgie aufgehalten worden sei und vorhabe, noch ein bisschen länger
Weitere Kostenlose Bücher