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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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ging zurück, um sich ein Croissant zu holen.
    Er beschloss, sich zum Essen hinzusetzen. Dirgrove ging. Wenig später erschien Angela in einer Gruppe von Ärzten.
    Plaudernd, glücklich, überaktiv. Sie sahen alle so jung aus.
    Sie hatte davon geredet, dass sie erschöpft war, aber jetzt war sie der Inbegriff von Vitalität.
    Alle waren sie das. Junge Leute.
    Plötzlich kamen Jeremy die acht Jahre zwischen Angela und ihm wie eine Generation vor. Jocelyn war in Angelas Alter gewesen, aber sie hatte einen … erfahreneren Eindruck gemacht. Vielleicht lag es an den Jahren, die sie als Krankenschwester gearbeitet hatte. Oder an den harten Jobs, die sie angenommen hatte, um sich die Ausbildung zu finanzieren.
    Angela, die Prinzessin ihres Vaters, die trotz einer glücklichen Kindheit von Zwangsvorstellungen geplagt war, würde vielleicht nie die Schuldgefühle wegen ihrer privilegierten Herkunft überwinden.
    Jocelyns Familie war arm, sie war in einem Wohnwagenpark aufgewachsen und seit ihrer Jugend auf sich selbst gestellt. Sie war für alles dankbar gewesen.
    Ein Proletenkind.
    Nein. Das klang
dermaßen
falsch.
    Jeremy traten Tränen in die Augen. Er schob sein Croissant und seinen Kaffee beiseite und eilte hinaus, wobei er darauf achtete, dass Angela ihn nicht bemerkte.
    Der vierte Umschlag traf ein. Endlich.
    Dienstagvormittag steckte er mitten in einem Stapel von Vernachlässigbarem. Jeremy hatte sich angewöhnt, am Sekretariat der Psychiatrie vorbeizuschlendern oder dann und wann den Kopf aus seinem Zimmer zu stecken, um eventuell den anonymen Absender zu ertappen.
    Ohne Erfolg. Und es spielte auch wirklich keine Rolle, nicht wahr? Das Medium
war
die Botschaft.
    Dünner Umschlag – dünner als üblich. Drinnen befand sich ein einzelnes Stück Papier, auf das eine einzige Zeile getippt worden war:
    Die Sprüche der Väter, Sforno, 5, 8e
    Offensichtlich eine Art Verweis. Ein alter Text? Etwas Buddhistisches? Italienisches?
    Er setzte sich an den Computer und hatte die Antwort innerhalb kürzester Zeit.
    Religiös, aber nicht buddhistisch.
Ethik der Väter
war ein Band – ein »Traktat«– aus dem Talmud, der einzige von dreiundsechzig, der nicht hauptsächlich mit Gesetzen zu tun hatte.
    »Der Bartlett des Judaismus«, nannte ihn ein Fachmann.
    »Ein Kompendium der Moral«, befand ein anderer.
    »Sforno« war Obadia Sforno, ein italienischer Rabbi und Arzt, der zur Zeit der Renaissance gelebt hatte und vor allem wegen seines Bibelkommentars bekannt war.
    Er hatte ebenfalls einen weniger bekannten Kommentar zu
Die Sprüche der Väter
geschrieben.
    Wo würde man so etwas finden?
    Vielleicht in Renfrews Antiquariat, als der stumme Mann noch lebte.
    Er rief bei zwei Stadtbüchereien an. Keine von beiden hatte irgendeine Ausgabe des Buches. Er zog das Telefonbuch heraus und suchte in den Gelben Seiten nach Buchhandlungen.
    Er versuchte es bei verschiedenen Läden, die neue und antiquarische Bücher verkauften. Keiner der Besitzer hatte die geringste Ahnung, wovon er redete. Zwei Läden priesen sich als »religiöse Buchhandlungen« an, aber »religiös« entpuppte sich als katholisch beziehungsweise protestantisch.
    Der Inhaber der katholischen Buchhandlung sagte: »Sie sollten es bei Kaplan’s versuchen.«
    »Wo ist das?«
    »In der Fairfield Avenue.«
    »Fairfield, im Osten der Innenstadt?«
    »Genau«, antwortete der Mann. »Wo früher das Judenviertel war, bevor sie alle in die Vororte umgezogen sind.«
    »Ist Kaplan’s noch da?«
    »Soweit ich weiß.«
    Die Fairfield Avenue lag eine kurze Fahrt vom Krankenhaus entfernt, zwei Fahrbahnen gewundener Asphalt mit Schlaglöchern und zahlreichen rußgeschwärzten Vorkriegshäusern am Rand. Fast alle Fassaden waren zugemauert, und an der Straße mit den vielen kleinen Geschäften und Handwerkern lagen nun hauptsächlich Lagerhäuser, in denen man Räume anmieten konnte. Verblasste Buchstaben, die auf schmutzige Häuserwände gemalt waren, wiesen auf ein früheres Leben hin:
    Schimmels FEinkost
    Shapiros Fischmarkt
    Koschere Metzgerei
    Die Buchhandlung war drei Meter breit, und auf der Tür stand in abblätternden Goldlettern BÜCHER, GESCHENKE UND JUDAICA über, wie Jeremy annahm, dem gleichen Text auf Hebräisch. Das Glas war dunkel – nicht geschwärzt wie bei Renfrew, sondern opak, weil der Raum dahinter augenscheinlich nicht erleuchtet war.
    Geschlossen. Der letzte Laden, der die Stellung hielt, machte dicht.
    Aber als Jeremy den Türknauf aus Messing drehte, gab

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