Der Pathologe
England auf und dann in New York, wo sie vorgab, nichts über das Verhalten ihres Mannes und über seinen Aufenthaltsort zu wissen. Sie ließ sich von Dergraav scheiden, änderte ihren Namen und verschwand spurlos. Colin Pugh zitierte Spekulationen, dass amerikanische Behörden sich Deergraavs angenommen hätten, um sich für Dienste zu revanchieren, die sein Vater ihnen während des Krieges geleistet hatte. Der in Oslo stationierte Diplomat hatte seine Nazi-Herren hintergangen und den Alliierten wichtige Informationen zugespielt. Das Ganze blieb allerdings ein Gerücht, und wenn Gerd Dergraav in der Folgezeit gesichtet wurde, dann nicht in der Nähe der Vereinigten Staaten, sondern in der Schweiz, in Portugal, Marokko, Bahrain, Syrien und Brasilien.
Die beiden letzten Schauplätze waren bestätigt. Irgendwann Anfang der Siebzigerjahre kam Dergraav mit Hilfe eines auf seinen eigenen Namen ausgestellten syrischen Reisepasses nach Rio de Janeiro und schaffte es auf die Schnelle, die brasilianische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Wieder verheiratet und mit einem Kind lebte er offen in Rio, kaufte eine Villa oberhalb des Strands von Ipanema und stellte seine Dienste freiwillig einer Menschenrechtsorganisation zur Verfügung, die den Slumbewohnern der übel riechenden
favelas
der Stadt kostenlose medizinische Versorgung offerierte.
Dergraav badete im Meer und in der Sonne, aß gut (argentinisches Rindfleisch war sein Leibgericht) und arbeitete unermüdlich ohne Bezahlung. Unter den Sozialarbeitern und den
favelitos
war er als der Weiße Engel bekannt – womit man sowohl auf seine blasse Gesichtsfarbe als auch auf seine reine Seele anspielte.
Während seines aktenkundigen Aufenthalts in Rio fand man immer wieder die zerstückelten Leichen von Prostituierten.
Dergraavs zweite mörderische Herrschaft dauerte ein weiteres Jahrzehnt. Ein äußerst banaler Vorfall führte schließlich zu seiner Verhaftung. Die Schreie einer Prostituierten, die er zu ersticken versuchte, erregten die Aufmerksamkeit einer Bande von Rowdys, die sich in der Nähe herumtrieben, und Dergraav floh in die Nacht. Die Schläger nutzten die Hilflosigkeit der gefesselten und geknebelten Frau aus, indem sie sie nacheinander vergewaltigten, aber sie ließen sie am Leben. Nach kurzer Unschlüssigkeit zeigte sie den Arzt bei der Polizei an.
Dergraavs Haus wurde von Kriminalbeamten aus Rio durchsucht, die es mit den Dienstvorschriften nicht so genau nahmen wie ihre deutschen Kollegen. Das Versteck mit den Videobändern wurde entdeckt, darunter eins, auf welchem Dergraav die Leiche einer Frau mit einem Laserskalpell in vierzig Stücke zerlegte. In dem Film sprach er, während er die Leiche zerstückelte, beschrieb die Prozedur, wie er es auch bei einer richtigen Operation getan hätte. Außerdem wurden eine Samtschachtel mit Schmuck und ein aus Rosenholz geschnitztes Kästchen sichergestellt, in dem Rückenwirbel, Zähne und Fingerknöchel klapperten.
Im Gefängnis Salvador de Bahia wartete Dergraav zwei Jahre auf seinen Prozess, charmant wie immer. Seine Wärter versorgten ihn mit internationalen Zeitungen, Literaturmagazinen und wissenschaftlichen Zeitschriften. Sein Essen wurde angeliefert. Unter Berufung auf seinen hohen Cholesterinspiegel aß Dergraav weniger Rindfleisch und mehr Geflügel.
Es ging das Gerücht, dass bald Geld den Besitzer wechseln und Dr. Dergraav im Schutz der Nacht abgeschoben werden würde, zurück in den Nahen Osten. Dann erfuhren deutsche Behörden von der Verhaftung und stellten einen Auslieferungsantrag. Das Verfahren zog sich hin, und man konnte Dergraav entspannt in einem weißen Tropenanzug im Gefängnishof sitzen sehen, wie er sich an seine Frau schmiegte und mit seinem Kind spielte.
Schließlich wurde der Auslieferungsantrag bewilligt. Am Tag nach der Ausfertigung verklebte Dergraav das Guckloch in seiner Zelle mit Kaugummi, zerriss seine Gefängniskleidung, verknotete die Streifen zu einem Seil und erhängte sich. Er war fast sechzig, sah aber aus wie ein Vierzigjähriger. Der Wärter, der ihn fand, äußerte sich über den gesunden und friedlichen Eindruck, den die Leiche des Weißen Engels machte.
Vor fast auf den Tag genau siebzehn Jahren war die Asche Gerd Dergraavs ins Meer gestreut worden.
40
Vor siebzehn Jahren
– das versetzte Jeremys Gedächtnis einen Stoß.
Der erste Laser-Artikel war genau in diesem Jahr erschienen.
Norwegische Autoren. Russen, ein Engländer. Er überprüfte die Namen. Kein
Weitere Kostenlose Bücher