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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Passanten musste er wie einer der Ärzte oder Angehörige eines Patienten erscheinen, der eine kurze Pause vor dem Krankenhaus einlegte, um sich etwas durch den Kopf gehen zu lassen oder einen Happen zu essen. Einen Moment lang scheute Ricky aus Angst vor dem, was ihn erwartete, davor zurück, die Unterlagen aus der Mappe zu ziehen, doch dann griff er hinein.
    Die Patientin, die er vor zwanzig Jahren behandelt hatte, hieß Claire Tyson.
    Er starrte auf die Lettern ihres Namens. Sie sagten ihm nichts. Kein Gesicht, das zu dem Namen passte, stieg aus der Versenkung hoch. Keine Stimme, die ihm nach zwanzig Jahren noch in den Ohren hallte. Keine Gesten, keine Mimik und kein Laut drangen über die Barriere von Jahren. In seinem Gedächtnis klang keine Saite auch noch so leise an. Es war nur ein Name von Dutzenden aus jener Zeit.
    Angesichts seiner Unfähigkeit, sich auch nur an ein einziges Detail zu erinnern, wurde ihm eiskalt.
    Ricky überflog das Aufnahmeformular.
    Die Frau war in einem Zustand fast akuter Depression, verbunden mit panikartigen Angstzuständen in die Klinik gekommen. Sie war von der Notaufnahme überwiesen worden, wo sie wegen Prellungen und offenen Fleischwunden behandeltworden war. Es gab klare Hinweise auf Misshandlung durch den Mann, mit dem sie zusammenlebte, der aber nicht der Vater ihrer drei kleinen Kinder war. Das Alter der Kinder war mit zehn, acht und fünf angegeben, doch die Namen waren nicht aufgeführt. Sie war erst neunundzwanzig Jahre alt und hatte eine Anschrift nicht weit von der Klinik angegeben, in einer ganz und gar miesen Gegend, wie Ricky sofort wusste. Sie hatte über keine Krankenversicherung verfügt und als Teilzeitkraft in einem Lebensmittelladen gearbeitet. Sie stammte nicht aus New York, sondern hatte in der Rubrik »Nächste Angehörige« Familienmitglieder aus einer Kleinstadt in Nordflorida angegeben. Ihre Sozialversicherungsund Telefonnummer waren das Einzige, was sie noch ausgefüllt hatte.
    Er wandte sich dem zweiten Blatt, einem Diagnoseformular, zu und hatte seine eigene Handschrift vor Augen. Die Worte machten ihm Angst.
Bei Miss Tyson handelt es sich um eine neunundzwanzigjährige Mutter von drei kleinen Kindern in einer möglicherweise physisch problematischen Partnerschaft mit einem Mann, der nicht der Vater ihrer Kinder ist. Sie gibt an, dass der leibliche Vater sie vor einigen Jahren verlassen hat, um eine Stelle auf den Bohrinseln im Südwesten anzunehmen. Sie verfügt über keine gültige Krankenversicherung und kann nur einer Teilzeittätigkeit nachgehen, da sie sich Ganztagsbetreuung für ihre Kinder nicht leisten kann. Sie empfängt Sozialhilfe und Kindergeld, Lebensmittelmarken sowie Mietzuschüsse. Ins heimatliche Florida könne sie nicht zurückkehren, erklärt Miss Tyson, da sie aufgrund ihrer Beziehung zum Vater der Kinder mit ihren Eltern zerstritten sei.
    Darüber hinaus fehlten ihr für eine solche Übersiedlung die finanziellen Mittel.
    Klinisch gesehen scheint Miss Tyson eine Frau von überdurchschnittlicher Intelligenz zu sein, der das Wohlergehen ihrer Kinder sehr am Herzen liegt. Sie verfügt über einen Highschool-Abschluss und hat zwei Jahre das College besucht, das sie verließ, als sie schwanger wurde. Sie scheint deutlich unterernährt zu sein und hat ein fortwährendes Zucken im rechten Augenlid entwickelt. Sie meidet Augenkontakt, wenn sie über ihre Situation spricht, und hebt den Kopf nur, wenn sie nach ihren Kindern gefragt wird, die ihr nach eigener Aussage sehr nahe stehen. Sie verneint, Stimmen zu hören, räumt aber ein, spontan in Verzweiflungstränen auszubrechen, die sie nicht unter Kontrolle bringen kann. Sie sagt, sie bleibt nur den Kindern zuliebe am Leben, leugnet aber weiterreichende suizidale Gedanken. Sie leugnet Drogenabhängigkeit; sichtbare Anzeichen von Narkotikakonsum waren ebenfalls nicht festzustellen, auch wenn eine toxikologische Untersuchung angeraten scheint.
    Erstdiagnose: Akute, anhaltende, durch Armut ausgelöste Depression. Persönlichkeitsstörung. Möglicher Drogenkonsum.
    Ärztliche Empfehlung: Ambulante Behandlung im staat lichen Förderrahmen von fünf Sitzungen.
    Dann seine Unterschrift. Er fragte sich, als er auf seinen Namenszug starrte, ob er damit sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte.
    Auf einem zweiten Blatt befand sich ein zweiter Eintrag, der belegte, dass Claire Tyson noch viermal zu ihm in die Klinikambulanzgekommen war, zu ihrer fünften und letzten Sitzung, die ihr zustand,

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