Der Patient
dass eventuell noch jemand kommen und danach suchen würde, sehe ich das richtig?«
»Kann sein, dass sie so was erwähnt haben.«
»Und vielleicht, wenn auch nur vielleicht, haben Sie gedacht, Sie könnten noch mal fünfzehnhundert oder sogar mehr rausschlagen, wenn Sie das Ding kopieren?«
Der Mann nickte. »Dann krieg ich von Ihnen noch mal was?« Ricky schüttelte den Kopf. »Betrachten Sie die Tatsache, dass ich Ihren Chef nicht rufe, als Ihre Bezahlung.«
Der Archivar schien innerlich einen Seufzer loszulassen, während er über Rickys Worte nachdachte, und machte in Rickys Gesicht wohl genug Zorn und Stress aus, um ihm die Drohung endlich abzukaufen.
»War sowieso nicht viel drin, in der Akte«, sagte er langsam.
»Aufnahmeformular und ein paar Seiten voll mit Notizen und Anweisungen, die an das Diagnoseformular angeheftet waren. Das hab ich kopiert.«
»Geben Sie sie mir«, sagte Ricky.
Der Mann schwieg. »Ich will keinen Ärger mehr«, sagte er. »Wenn nun noch jemand nach dem Ding fragt …«
»Außer mir kommt keiner mehr«, sagte Ricky.
Der Archivar beugte sich vor und öffnete eine Schublade. Er griff hinein und zog einen Umschlag heraus, den er Ricky reichte. »Da«, sagte er. »Und jetzt lassen Sie mich in Frieden.«
Ricky warf einen Blick hinein und sah die nötigen Unterlagen. Er widerstand der Versuchung, sich augenblicklich darauf zu stürzen, und machte sich klar, dass er allein sein musste, wenn er seine Vergangenheit auslotete. Er steckte den Umschlag in die Tasche in seinem Jackett. »Ist das alles?«, fragte er.
Der Mann zögerte, bevor er noch einmal nach unten griff und einen weiteren, kleineren Umschlag aus der Schublade holte. »Hier«, sagte er. »Der gehört dazu. Der war außen an die Akte geheftet, wissen Sie, an den Deckel geklammert. Den hab ich dem Typ nicht gegeben. Weiß auch nicht, wieso. Ging davon aus, dass er das eh schon hat, weil er alles über den Fall zu wissen schien.«
»Was ist das?«
»Ein Polizeibericht und ein Totenschein.«
Ricky schnappte nach Luft und füllte seine Lunge mit dem abgestandenen Muff des Krankenhauskellers.
»Was soll an einer armen Frau so wichtig sein, die hier vor zwanzig Jahren aufgetaucht ist?«, wollte der Mann plötzlich wissen.
»Jemand hat einen Fehler gemacht«, erwiderte Ricky.
Der Mann schien die Erklärung zu akzeptieren. »Und jetzt soll dieser Jemand dafür bezahlen?«, fragte er.
»Sieht ganz danach aus«, antwortete Ricky, während er sich zum Gehen wandte.
18
Als Ricky aus dem Krankenhaus trat, kribbelte es ihm immer noch in den Händen, besonders in den Fingerspitzen, die er dem Büroangestellten tief unters Schlüsselbein gegraben hatte. Er konnte sich an keinen Moment in seinem Leben erinnern, wo er etwas mit Gewalt durchgesetzt hatte. Nach seinem Selbstverständnis gab es für ihn nur Diskussion und Überzeugungarbeit; der Gedanke, dass er den Mann physisch bedroht hatte, wenn auch in Maßen, sagte ihm, dass er eine Art Barriere, eine Demarkationslinie übertrat. Ricky war ein Mann des Wortes oder hatte sich zumindest dafür gehalten, bis er den Brief von Rumpelstilzchen bekommen hatte. In seiner Tasche befand sich der Name der Frau, die er in einer Übergangsphase seines Lebens behandelt hatte. Er fragte sich, ob er jetzt wieder an einem solchen Abschnitt angekommen war. Und im selben Moment fragte er sich, ob er am Scheideweg zu etwas Neuem stand.
Er bahnte sich einen Weg durch den riesigen Krankenhauskomplex in Richtung Hudson. Nicht weit von der Vorderseite des Harkness Pavilion, einer Einrichtung für die besonders Wohlhabenden wie auch besonders Kranken, befand sich ein kleiner Innenhof. Es handelte sich um riesige, vielstöckige Bauten aus Ziegel und Stein, wuchtige Trutzburgen, die zum Schutz vor den vielen Erscheinungsformen winzigster Krankheitsorganismen errichtet worden waren. Er erinnerte sich aus früheren Jahren an diesen stillen Ort, wo man auf einerBank sitzen und den Lärm der Stadt hinter sich lassen konnte, um mit den Problemen, die an einem nagten, und den Abgründen, die sich auftaten, allein zu sein.
Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen merkte er, dass er nicht das Gefühl hatte, ihm sei jemand gefolgt. Er war sicher, er war allein. Er erwartete nicht, dass das von Dauer sein würde.
Ricky brauchte nicht lange, bis er die Bank erspäht hatte, und im nächsten Moment saß er auch schon, die Akte und den Umschlag, den der Archivar ihm ausgehändigt hatte, auf dem Schoß. Jedem
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