Der Patient
aber nicht mehr erschienen war. Zumindest in dieser Hinsicht lag sein alter Mentor, Dr. Lewis, also daneben.
Doch in dem Moment kam ihm ein anderer Gedanke, und er faltete die Todesurkunde mitsamt dem Stempel des städtischen Coroner auf, um das Datum mit dem ursprünglichen Behandlungsdatum auf seinem eigenen Klinikformular zu vergleichen.
Fünfzehn Tage.
Schlagartig saß er senkrecht. Die Frau war ins Krankenhaus gekommen und an ihn überwiesen worden. Einen halben Monat später war sie tot.
Die Sterbeurkunde schien in seinen Händen zu glühen, und Ricky überflog hastig das Formular. Claire Tyson hatte sich mithilfe eines Herrenledergürtels, den sie über eine freiliegende Rohrleitung geschlungen hatte, im Bad ihrer Wohnung erhängt. Dem Autopsiebericht war zu entnehmen, dass sie kurz vor ihrem Tod geschlagen worden war und dass sie im dritten Monat schwanger war. Der dem Totenschein angeheftete Polizeibericht vermerkte, dass ein Mann namens Rafael Johnson zu den Schlägen befragt, jedoch nicht festgenommen worden war. Für die drei Kinder bekam das Jugendamt die Vormundschaft.
Und das war’s, dachte Ricky.
Nicht in noch so vielen Worten vermittelte das, was da in den Formularen stand, auch nur ansatzweise den endlosen Horror von Claire Tysons Leben und Sterben, dachte er. Das Wort Armut vermag nicht annähernd eine Welt aus Ratten, Schmutz und Verzweiflung einzufangen. Das Wort Depression lässt kaum die lähmende, düstere Last erahnen, die sie mit sich herumgetragen haben musste. In dem Strudel, der Claire Tysonin den Abgrund zog, hatte nur eines ihrem Leben noch Sinn gegeben: ihre drei Kinder.
Das älteste, dachte Ricky. Sie muss dem ältesten gesagt haben, dass sie zu mir ins Krankenhaus wollte, um sich helfen zu lassen. Hatte sie ihm gesagt, ich sei ihre einzige Chance? Ich sei die Hoffnung auf ein anderes Leben? Was habe ich zu ihr gesagt, das ihr Hoffnung machte und das sie den drei Kindern weitersagte?
Egal was – es reichte nicht, sonst hätte sich die Frau nicht das Leben genommen.
Claire Tysons Selbstmord musste für jene drei Kinder, besonders für den ältesten Sohn, zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens geworden sein, überlegte Ricky. Und dabei hatte es in seinem eigenen Leben nicht die leiseste Spur hinterlassen. Als die Frau zu ihrer letzten Sitzung nicht erschienen war, hatte Ricky nichts unternommen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, aus Sorge einen einzigen Anruf getätigt zu haben. Stattdessen hatte er diese Papiere einfach in einer Mappe gesammelt und die Frau vergessen. Und ihre Kinder.
Und jetzt hatte eines davon es auf ihn abgesehen.
Finde dieses Kind, und du hast Rumpelstilzchen, dachte er.
Er stand auf, da er wusste, wieviel Arbeit auf ihn wartete, und war irgendwie froh, dass die Zeit so drängte und er nicht gezwungen war, tatsächlich darüber nachzudenken, was er vor zwanzig Jahren getan – oder auch unterlassen hatte.
Den ganzen übrigen Tag verbrachte Ricky in New Yorks bürokratischer Hölle.
Mit nichts weiter als einem zwanzig Jahre alten Namen mit Anschrift bewaffnet, wurde er bei seiner Suche nach dem Verbleib der drei Kinder von Claire Tyson beim staatlichen Jugendamt in Downtown-Manhattan von einem Amt nebstSachbearbeiter zum anderen verwiesen. Das Frustrierende an seinem Vorstoß in die Welt der Behörden war, dass er wie auch all die anderen Leute in all den Büros, in denen er vorstellig wurde, genau wusste, dass es irgendwo irgendwelche Aufzeichnungen zu den Kindern geben musste; diese aber im Wust der Computer-Ordner und -Dateien, der Aktenberge in den Archiven tatsächlich zu finden, erwies sich – anfangs zumindest – als unmöglich. Danach zu wühlen, war eine Sache von Stunden. Ricky wünschte sich, er wäre ein investigativer Journalist oder Privatdetektiv gewesen, der Typ Mensch, der die Geduld hat, Stunden mit verstaubten Akten zuzubringen. Er hatte sie nicht. Und auch nicht die Zeit.
Es existieren drei Menschen auf dieser Welt, die durch diesen seidenen Faden mit mir verbunden sind, und es kann mich das Leben kosten, sagte er sich, als er sich mit einem weiteren Bürohengst in einem weiteren Amt herumschlug. Bei dem Gedanken schrillten sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf.
Er stand im Archiv des Jugendgerichts einer kräftigen, freundlichen Latina gegenüber. Sie hatte ihre üppige schwarze Haarpracht streng aus dem Gesicht gekämmt, so dass die eigenwillig modische Silberrandbrille, die sie trug, ihre Erscheinung dominierte.
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