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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Zug nach Hause zu fahren. Er reihte sich ein und fühlte sich in der Menge sonderbar behütet. In der Bahn herrschte drangvolle Enge; er musste stehen, und so hing er auf seiner Fahrt Richtung Norden an einer Metallstangeund ließ sich vom Rhythmus der Fahrt und der Passagiermasse durchrütteln. Er genoss den Luxus der Anonymität.
    Er versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben, dass ihm am Morgen nur noch achtundvierzig Stunden blieben. Er kam zu dem Schluss, dass er zwar seine Frage geschaltet hatte, die Antwort aber bereits wusste, so dass ihm zwei Tage blieben, um die Namen von Claire Tysons verwaisten Kindern herauszufinden. Er konnte nicht sagen, ob das zu schaffen war, zumindest aber war es etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, eine konkrete Information, an die er herankam oder auch nicht, eine nackte, nüchterne Tatsache, die irgendwo in der Welt von Akten und Gerichten angesiedelt war. Nicht die Welt, in der er zu Hause war, wie er an diesem Nachmittag reichlich bewiesen hatte, doch immerhin eine handfeste Welt, und das gab ihm Hoffnung. Er zermarterte sich das Hirn, um sich an einen der Richter zu erinnern, mit dem seine Frau seinerzeit auf gutem Fuße stand; vielleicht wäre einer davon bereit, eine Verfügung zu unterschreiben, damit er an die Adoptionsunterlagen kam. Bei dem Gedanken, dass er das hinbiegen könnte und Rumpelstilzchen mit diesem Schachzug nicht gerechnet hatte, musste er schmunzeln.
    Der Zug rumpelte hin und her und verlor an Fahrt, so dass er die Metallstange noch fester packen musste. Es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten, und er wurde an einen jungen Mann mit Rucksack und langem Haar gedrückt, der den plötzlichen physischen Kontakt ignorierte.
    Die U-Bahn-Station war zwei Häuserblocks von Rickys Wohnung entfernt, und er stieg die Treppen zur Straße hoch, erleichtert, wieder draußen zu sein. Er blieb stehen und atmete die Hitze ein, die ihm vom Bürgersteig entgegenschlug, bevor er sich zügig in Bewegung setzte. War er auch nicht gerade zuversichtlich, so doch zumindest entschlossen. Er nahmsich vor, in seinem Kellerverschlag das alte Adressbuch seiner Frau zu suchen und noch am selben Abend die Richter anzurufen, die sie damals gekannt hatte. Einer musste sich doch bereit erklären, ihm zu helfen. Das Vorhaben war noch kein Plan, aber besser als nichts. Während er zügig voranschritt, war er sich plötzlich nicht sicher, ob er in Rumpelstilzchens Rachefeldzug an diesen Punkt gelangt war, weil sein Widersacher es so wollte, oder weil er clever gewesen war. Und auf abstruse Weise beflügelte ihn der Gedanke an Rumpelstilzchens schreckliche Vergeltung gegenüber Rafael Johnson, dem Mann, der die Mutter des Unbekannten verprügelt hatte. Ihm kam der Gedanke, dass zwischen der Nachlässigkeit, die er selbst sich zuschulden hatte kommen lassen und die im Grunde aus den Mängeln des bürokratischen Systems resultierte, und der körperlichen Misshandlung, die auf Johnsons Konto ging, ein riesiger Unterschied bestand. Er gestattete sich den optimistischen Gedanken, dass vielleicht alles, was ihm, seiner Karriere, seinen Bankkonten, seinen Patienten zugefügt worden war, an diesem Punkt enden könnte – mit einem Namen und einer Art Entschuldigung, so dass er sich daranmachen konnte, sich in seinem bisherigen Leben wieder einzurichten.
    Keine Sekunde lang machte er sich über das wahre Wesen der Rache Gedanken, ein Phänomen, das für ihn vollkommenes Neuland war, und die Drohung gegen einen seiner Verwandten, die nach wie vor bestand, hatte er für den Augenblick aus seinem Bewusstsein verbannt.
    Stattdessen wiegte er sich in der zumindest verhaltenen Hoffnung, den Anschein von Normalität wiederherzustellen und womöglich siegreich aus diesem Wettstreit hervorzugehen, als er zu seinem Häuserblock um die Ecke bog und plötzlich erstarrte.
    Vor seinem Sandsteingebäude standen drei Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht, ein großer Löschzug der städtischen Feuerwehr sowie zwei Baufahrzeuge. Die kreisenden Warnblinkleuchten verschmolzen mit dem abendlichen Dämmerlicht.
    Ricky stolperte wie ein Betrunkener, wie nach einem Schlag ins Gesicht zurück. Er sah mehrere Polizisten vor seinem Eingang stehen und mit Arbeitern in Schutzhelmen und schweißgetränkten Overalls reden. Ein wenig abseits der Gruppe waren noch ein, zwei Feuerwehrleute zugange, die sich aber, als er näher trat, aus der Traube lösten und in ihren Löschzug schwangen. In das tiefe Motorendröhnen

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