Der Patient
Hohlspitzengeschoss, eine Dreihundertachtzig-Grain-Patrone, ab. Es sind fünfzehn Schuss im Magazin, von denen jeder eine ordentliche Portion von Ihrem Schädel entfernt, vielleicht sogar genau die Stelle, auf die Sie gerade mit dem Finger zeigten, undSie sind ganz schnell tot. Und wissen Sie, was an dieser Waffe wirklich faszinierend ist, Herr Kollege?«
»Was?«
»Dass ein Mann sie in der Hand hält, der schon mal gestorben ist. Der auf dieser Erde gar nicht mehr existiert. Wie wär’s, wenn Sie sich mal für einen Moment durch den Kopf gehen lassen, was dieses existenzielle Ereignis zu bedeuten hat?«
Dr. Lewis schwieg und fixierte die Waffe. Dann lächelte er.
»Ricky, was Sie da sagen, ist interessant. Aber ich kenne Sie. Ich kenne Sie durch und durch. Sie haben fast vier Jahre auf meiner Couch gelegen. Sämtliche Ängste, sämtliche Zweifel, sämtliche Hoffnungen, Träume und Ambitionen oder auch Befürchtungen – ich kenne sie alle. Ich kenne Sie besser, als Sie selbst sich kennen, viel besser sogar, wie ich vermute, und ich weiß, dass Sie trotz Ihres Gehabes kein Mörder sind. Sie sind bloß ein zutiefst verstörter Mann, der in seinem Leben ein paar denkbar schlechte Entscheidungen getroffen hat. Ich fürchte, jemanden zu töten, wird sich als eine ebenso schlechte Wahl erweisen.«
Ricky schüttelte den Kopf. »Der Mann, den Sie als Dr. Frederick Starks kannten, war auf Ihrer Couch. Aber der ist ein für allemal tot, und mich kennen Sie nicht. Nicht mein neues Selbst. Sie wissen rein gar nichts von mir.«
Dann drückte er ab.
Der Schuss hallte mit einem ohrenbetäubenden Knall von den Wänden des kleinen Zimmers wider. Die Kugel schoss über Dr. Lewis’ Kopf hinweg durch die Luft und drang direkt hinter ihm in ein Bücherregal. Ricky sah, wie das Geschoss einen dicken Wälzer über Medizin, auf dessen Buchrücken er kurz starrte, im Bruchteil einer Sekunde zerfetzte. Es war ein Werk über die Psychologie des Abnormen, ein Umstand, der Ricky fast zum Lachen brachte.
Dr. Lewis wurde bleich, taumelte zurück, schwankte einen Moment von einer Seite zur anderen und rang nach Luft.
Er stützte sich auf den Tisch. »Mein Gott«, platzte er heraus. In den Augen des Mannes war vielleicht nicht Angst, aber doch ungläubiges Staunen über etwas ganz und gar Unerwartetes abzulesen. »Ich hätte nicht gedacht …«, stammelte er.
Ricky schnitt ihm das Wort ab, indem er kurz mit der Waffe winkte. »Das hat mir ein Hund beigebracht.«
Dr. Lewis drehte sich ein Stück auf seinem Stuhl herum und sah sich die Stelle an, wo die Kugel eingeschlagen hatte. Er lachte auf und holte tief Luft, dann schüttelte er den Kopf. »Beachtlicher Schuss, Ricky«, sagte er langsam. »Wirklich beachtlicher Schuss. Näher an der Wahrheit als an meinem Kopf. Vielleicht sollten Sie sich einen Moment Zeit nehmen, über das, was ich gesagt habe, nachzudenken.«
Ricky sah den alten Arzt argwöhnisch an. »Tun Sie nicht so abgebrüht«, sagte er kurz angebunden. »Wir wollten ein paar Dinge klären. Schon bemerkenswert, wie so eine Waffe hier dabei helfen kann, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Denken Sie an all die Stunden mit all den Patienten, Herr Kollege, einschließlich meiner Wenigkeit. All die Lügen und Abschweifungen und Ablenkungsmanöver, die kaum zu durchdringenden Selbsttäuschungsmechanismen. Wer hätte gedacht, dass so ein Ding hier so schnell Licht in das Dickicht bringen kann. Erinnert fast ein bisschen an Alexander und den Gordischen Knoten, finden Sie nicht?«
Dr. Lewis schien sich wieder gefasst zu haben. Sein Gesichtsausdruck wechselte schnell, und er starrte Ricky wütend mit zusammengekniffenen Augen an, als könnte er immer noch eine gewisse Kontrolle über die Situation gewinnen. Ricky ignorierte diesen Blick, schob sich – fast so wie etwa ein Jahr zuvor – einen Sessel heran und setzte sich dem älteren Arztgegenüber. »Wenn nicht Sie«, fragte Ricky kalt, »wer ist dann Rumpelstilzchen?«
»Das wissen Sie doch längst, oder?«
»Klären Sie mich auf.«
»Das älteste Kind Ihrer einstigen Patientin. Der Frau, die Sie im Stich gelassen haben.«
»Das wusste ich schon. Fahren Sie fort.«
Dr. Lewis zuckte die Achseln. »Mein Adoptivkind.«
»Das hab ich heute Abend bereits erfahren. Und die anderen zwei?«
»Seine jüngeren Geschwister. Sie kennen sie als Merlin und Virgil. Natürlich heißen sie anders.«
»Ebenfalls adoptiert?«
»Ja, wir haben sie alle drei genommen. Zuerst als
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