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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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richtig lag.
    Falls ja, wäre er bald frei, falls nicht, tot.
    Ricky erforschte jeden Winkel seines Spiegelbilds. Wer bist du jetzt?, fragte er sich. Bist du wer, oder bist du ein Niemand?
    Bei diesen Gedankenspielchen musste er schmunzeln. Ihn durchströmte ein wundervolles Gefühl von Erleichterungund Übermut. Frei oder tot. Wie auf dem Nummernschild seines Leihwagens aus New Hampshire. Lebe in Freiheit oder stirb. Endlich ergab dies einen Sinn.
    Seine Gedanken wanderten zu den drei Menschen, die ihm im Nacken saßen. Den Kindern der Patientin, bei der er versagt hatte. So aufgezogen, dass sie jeden hassten, der nicht geholfen hatte.
    »Ich weiß jetzt, wer du bist«, sagte er laut, während er sich Virgil vor Augen führte. »Und dich werde ich gleich kennen lernen«, fuhr er fort und beschwor Merlins Bild herauf.
    Rumpelstilzchen allerdings blieb weiterhin im Dunkeln, ein bloßer Schatten in seiner Vorstellungskraft.
    Er begriff sehr wohl, dass dies die einzige Angst war, die er noch hatte. Doch diese Angst war groß.
    Ricky nickte sich im Spiegel zu. Zeit für die Vorstellung, gehen wir’s an.
    An der Ecke befand sich ein großer Drugstore, die Filiale einer Kette, mit reihenweise rezeptfreien Erkältungsmitteln, Shampoos und Batterien. Für die Begegnung mit Merlin an diesem Morgen hatte er sich etwas ausgedacht, das er einmal in einem Buch über Gangster in Süd-Philadelphia gelesen hatte. Er fand, was er brauchte, in der Abteilung mit billigem Kinderspielzeug; dann die zweite Zutat bei Bürobedarf. Er bezahlte bar, trat, nachdem er seine Einkäufe in der Jackentasche verstaut hatte, wieder auf die Straße und winkte ein Taxi heran.
     
    Wie tags zuvor betrat er das Gerichtsgebäude mit einer forschen Selbstverständlichkeit, der seine wahren Absichten nicht anzumerken waren. Er machte einen Abstecher in die Toilette auf dem zweiten Stock, nahm die Gegenstände aus der Tasche und präparierte sie in wenigen Sekunden. Dannvertrieb er sich noch ein wenig die Zeit, bevor er den Gerichtssaal ansteuerte, wo der Mann, der Merlin war, einen Antrag begründen würde.
    Wie vermutet, war der Raum selbst nur mäßig besetzt. Ein paar andere Anwälte saßen herum und warteten darauf, dass ihre Fälle aufgerufen wurden. Etwa ein Dutzend Schaulustige hatten die Plätze im mittleren Bereich der höhlenartigen Arena eingenommen, und ein Teil von ihnen döste vor sich hin, während andere aufmerksam lauschten.
    Ricky schlüpfte am Gerichtsdiener vorbei geräuschlos zur Tür herein und nahm hinter einer Reihe alter Leute Platz. Er rutschte auf seinem Sitz nach unten und machte sich so unsichtbar wie möglich.
    Vor der Gerichtsschranke agierte ein halbes Dutzend Anwälte und Kläger, die an soliden Eichentischen vor der Richterbank saßen. Beide Gruppen hatten Papiere und ganze Kartons mit Schriftsätzen vor sich ausgebreitet. Es waren ausschließlich Männer, und sie alle waren ganz und gar in die Reaktion des Richters auf ihre Ausführungen vertieft. Es gab in diesem Gericht keine Geschworenen, so dass alles nur dem Richter vorgetragen wurde. Es gab auch keinen Grund, sich ans Publikum zu wenden, da dies keine nennenswerte Auswirkung auf das Verfahren gehabt hätte. Folglich schenkte keiner der Männer den Leuten, die sich über die Sitzreihen hinter ihnen verteilten, auch nur die geringste Beachtung. Vielmehr machten sie sich Notizen, schauten in ihre Zitate aus Gesetzestexten und widmeten sich ansonsten ganz der Aufgabe, für ihren Klienten möglichst viel Geld rauszuschlagen und, noch entscheidender, für sich selbst. Es kam Ricky wie eine Art stilisierte Inszenierung vor, bei der sich niemand für das Publikum interessiert, sondern nur für den Theaterkritiker vor ihnen in der schwarzen Robe. Ricky wechseltedie Stellung und blieb so anonym und verborgen wie geplant.
    Als Merlin sich erhob, durchströmte ihn eine Woge der Erregung. »Sie haben einen Einwand, Mr. Thomas?«, fragte der Richter in strengem Ton.
    »Ja, in der Tat«, erwiderte Merlin selbstgefällig.
    Ricky warf einen Blick auf die Liste, die er sich von sämtlichen mit dem Fall betrauten Anwälten gemacht hatte. Mark Thomas, Esquire, mit Kanzlei in Manhattan downtown, stand mitten in der Gruppe. »Und der wäre?«, fragte der Richter.
    Ricky hörte eine Weile zu. Der sichere, selbstzufriedene Ton des Anwalts war genauso, wie er ihn bei ihren Begegnungen angeschlagen hatte. Er redete mit einem Selbstvertrauen, das nicht ins Wanken geriet, egal, ob das, was er

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