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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Ist kein Geheimnis, dass er tief verstört war. Wieso glauben Sie, dass er sich nicht selber das Leben genommen hat, indem er auf eine phantastisch kostengünstige und wirkungsvolle Methode zurückgegriffen hat, die in New York ja nicht gar so ungewöhnlich ist? Eine Methode, die Sie demnächst vielleicht gezwungenermaßen auch in Erwägung ziehen. Gar kein so schlechter Abgang, bei genauerer Betrachtung. Ein Moment der Angst und des Zweifels, eine Entscheidung, ein einziger mutiger Schritt von der Plattform, ein kreischendes Geräusch, ein Blitzstrahl und seliges Vergessen.«
    »Zimmerman hätte sich nicht umgebracht. Er wies keines der klassischen Symptome auf. Sie oder jemand von Ihrem Schlag hat ihn vor diesen Zug geschubst.«
    »Ich bewundere Ihre Gewissheit, Ricky. Wer sich seiner Sache immer so sicher ist, kann sich nur glücklich schätzen.«
    »Ich gehe noch mal zur Polizei.«
    »Steht Ihnen natürlich frei, einen zweiten Versuch zu starten, falls Sie meinen, das bringt etwas. Fanden Sie sie besondershilfreich? Haben die besonderes Interesse daran gezeigt, sich Ihre psychoanalytische Erklärung zu einem Vorfall anzuhören, bei dem Sie gar kein Zeuge waren?«
    Die Frage brachte Ricky zum Verstummen. Er wartete eine Weile, bevor er sagte: »Meinetwegen. Wie soll’s demnach weitergehen?«
    »Da wartet ein Geschenk auf Sie. Drüben auf der Couch. Sehen Sie es?«
    Ricky fuhr hoch, und er entdeckte an der Stelle, wo seine Patienten gewöhnlich den Kopf hinlegten, einen mittelgroßen, braunen Umschlag. »Ich sehe es«, antwortete er.
    »Gut«, sagte Virgil. »Ich warte, bis Sie es aufgemacht haben.« Bevor er den Hörer vor sich auf den Schreibtisch legen konnte, hörte er, wie sie eine Melodie summte, die ihm vage bekannt vorkam, auch wenn er nicht gleich wusste, woher. Hätte Ricky regelmäßiger ferngesehen, wäre ihm nicht entgangen, dass Virgil die bekannte Melodie aus der Quiz-Show
Jeopardy
anstimmte. Stattdessen stand er auf, ging zur Couch und nahm den Umschlag zur Hand, der sich dünn anfühlte. Er riss ihn ungeduldig auf, um das einzige Blatt Papier herauszuziehen, das er enthielt.
    Es war ein abgerissenes Kalenderblatt. Ein großes rotes X prangte auf dem Datum des zu Ende gehenden Tages, dem ersten August. Danach folgten dreizehn unmarkierte Daten. Der Fünfzehnte war rot eingekreist, die übrigen Tage des Monats geschwärzt.
    Ricky bekam einen trockenen Mund. Er spähte in den Umschlag, doch der war leer.
    Er kehrte langsam zum Schreibtisch zurück und nahm den Hörer hoch.
    »Na schön«, sagte er. »Das ist nicht schwer zu verstehen.«
    Virgil antwortete in ungerührtem, fast freundlichem Ton.
    »Eine Erinnerung, Ricky, weiter nichts. Eine Starthilfe, wenn Sie so wollen. Ricky, Ricky, mal im Ernst, was haben Sie gelernt?«
    Die Frage loderte in ihm, und er war kurz vor einem Wutausbruch. Doch er schluckte seinen Zorn herunter und antwortete beherrscht: »Ich habe gelernt, dass es offenbar keine Grenzen gibt.«
    »Gut, Ricky, gut. Das ist ein Fortschritt. Was noch?«
    »Ich habe gelernt, das, was hier im Gange ist, nicht zu unterschätzen.«
    »Ausgezeichnet, Ricky. Noch was?«
    »Nein, das wär’s im Moment.«
    Virgil zischte wie die Parodie einer Grundschullehrerin ein missbilligendes Ts-ts-ts. »Stimmt nicht, Ricky. Sie haben außerdem gelernt, dass alles in diesem Spiel, einschließlich des wahrscheinlichen Ausgangs, auf einem Feld ausgetragen wird, das in einmaliger Weise auf Sie abgestimmt ist. Ich glaube, dass mein Auftraggeber überaus großzügig gewesen ist, wenn man bedenkt, welche Alternativen es für ihn gegeben hätte. Sie haben eine – zugegebenermaßen geringe – Chance bekommen, ein anderes wie auch Ihr eigenes Leben zu retten, indem Sie eine einfache Frage beantworten: Wer ist er? Und da er nicht unfair sein will, hat er Ihnen eine alternative Lösung offen gelassen, natürlich weniger attraktiv für Sie, aber eine, die Ihrem traurigen Dasein in Ihren letzten Tagen eine gewisse Größe verleiht. So eine Chance bekommt wahrhaftig nicht jeder, Ricky. Dass die Leute an Ihr Grab treten und wissen, dass Ihr Opfer jemand anderen vor einem unbekannten, deshalb aber nicht minder entsetzlichen Schicksal bewahrt hat. Also ehrlich, das grenzt schon an Heiligsprechung, Ricky, und zwar ohne die drei großartigen Wunder, die die katholische Kirche gewöhnlich verlangt, auch wenn ich nebenbeibemerkt schätze, dass sie es bei würdigen Kandidaten schon mal mit ein oder zwei gut sein lassen. Was

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