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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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dass uns das weiterbringt. Diese elektronischen Bankräuber sind ganz schön gewieft. Führt normalerweise irgendwann in eine Sackgasse.«
    »Würden Sie es bitte trotzdem versuchen und sich wieder beimir melden? Direkt? Ich stehe hier nämlich unter einem gewissen Zeitdruck«, sagte Ricky.
    »Wir tun, was wir können, und melden uns wieder«, antwortete der Mann und legte auf.
    Ricky lehnte sich im Sessel zurück. Einen Moment lang gab er sich der angenehmen Vorstellung hin, die Sicherheitsabteilung der Bank würde mit einem Namen und einer Telefonnummer aufwarten, und dieser eine kleine Patzer könnte ihm die Identität seines Peinigers verraten. Dann schüttelte er den Kopf, denn er fragte sich, ob jemand wie Rumpelstilzchen, der bis jetzt so planvoll und umsichtig vorgegangen war, einen derart einfachen Fehler begehen würde. Viel wahrscheinlicher war es, dass der Mann sich zunächst Zugang zu diesem Konto verschafft und danach in voller Absicht den verdächtigen Anruf getätigt hatte, um Ricky auf eine Fährte zu locken.
    Dieser Gedanke machte ihm zu schaffen.
     
    Als der Tag allmählich zur Neige ging, war Ricky dennoch klar, dass er über den Mann, der ihn verfolgte, inzwischen eine Menge in Erfahrung gebracht hatte. Rumpelstilzchens Hinweis in seinem Gedicht war eigentümlich großzügig gewesen, besonders für jemanden, der zunächst auf Ja-Nein-Fragen bestanden hatte. Diese Reaktion hatte ihn dem Namen des Mannes ein ganzes Stück näher gebracht, wie er fand. Zwanzig Jahre, mit einem gewissen Spielraum darüber oder darunter, verwies ihn auf einen Zeitraum von 1978 bis 1983. Und es handelte sich bei seiner Patientin um eine ledige Frau, was eine Menge Kandidaten ausschloss. Jetzt hatte er einen Bezugsrahmen, mit dem er etwas anfangen konnte.
    Es ging nunmehr darum, sagte sich Ricky, fünf Jahre Therapie zu rekonstruieren. Jede Patientin in diesen Jahren unter dieLupe zu nehmen. Irgendwo dazwischen würde er die Frau mit der richtigen Mischung aus Neurosen und Problemen entdecken, die sie in der Folge auf ihr Kind übertragen hatte. Finde die Psychose in voller Blüte, befahl er sich.
    Nach alter Gewohnheit – so hatte er es nun mal gelernt – saß er da und versuchte, alle Geräusche um sich herum auszuschalten und sich auf seine Erinnerungen zu konzentrieren. Wer war ich vor zwanzig Jahren?, fragte er sich. Und wen habe ich behandelt?
    Es gibt einen unumstößlichen Lehrsatz in der Psychoanalyse, einen Eckpfeiler der Therapie: Jeder kann sich an alles erinnern. Das hieß nicht unbedingt, mit der Faktentreue eines Journalisten oder akribisch bis ins letzte Detail, denn Wahrnehmungen und Empfindungen sind oft von allen möglichen emotionalen Kräften getrübt oder eingefärbt, und so können Ereignisse, an die man sich vielleicht sehr deutlich zu erinnern glaubt, in Wahrheit höchst verschwommen sein; doch wenn am Ende alles gesichtet ist, steht fest, dass sich jeder an alles erinnern kann. Verletzungen und Ängste liegen möglicherweise unter mehreren Schichten Stress verborgen, doch sie sind da und können hervorgeholt werden, wie mächtig der Verdrängungsinstinkt auch sei.
    In seiner Praxis war er mit diesem Häutungsprozess – Schicht um Schicht, bis man auf Knochen, den harten Kern der Probleme stieß – bestens vertraut. Und so machte er sich in der Abgeschiedenheit seines Sprechzimmers daran, seine eigenen Erinnerungen zu ergründen. Gelegentlich warf er einen Blick auf die verschiedenen Bruchstücke in seinen Notizen, Bilder, die ihm ins Bewusstsein stiegen und aus denen er ein Gesamtbild zu erstellen hoffte. Doch wütend über sich selbst musste er erkennen, dass sein Protokoll nicht präzise genug war. Jeder andere Arzt, den man mit einer Angelegenheit aus derVergangenheit konfrontierte, hätte einfach einen alten Aktenordner abgestaubt und den richtigen Namen mitsamt Diagnose aufgeschlagen. Seine Aufgabe war deutlich schwieriger, da seine Akten allein in seinem Gedächtnis gespeichert waren. Dennoch stellte sich ein Gefühl der Zuversicht ein, die Aufgabe meistern zu können. Den Schreibblock auf dem Schoß, konzentrierte er sich mit aller Macht und rekonstruierte die Vergangenheit.
    Einer nach dem anderen gewannen die Menschen in seiner Erinnerung an Kontur. Ein wenig war es so, als würde er mit Geistern Kontakt aufnehmen.
    Die Männer ignorierte er, wann immer sie sich ihm ins Gedächtnis drängten, so dass nur die Frauen übrigblieben. Namen stellten sich langsam ein; seltsamerweise war

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