Der Perfekte Eroberer
er sich sehr unwohl. Er beginnt seltener ein Gespräch, sondern hofft, dass er nur zu antworten braucht, trägt zur Unterhaltung selbst kaum eigene Ansichten und Erlebnisse bei und verrät selten etwas über sich selbst. Stattdessen versucht er, den anderen durch unterstützende Bemerkungen wie »ja« und »ach was?« am Reden zu halten. Er spricht weniger, traut sich nicht zu lächeln, vermeidet den Blickkontakt. Schließlich zieht er sich immer mehr in sich zurück.
Es geht bei dieser Form von Perfektionismus also nicht nur darum, hohe Ziele anzustreben. Das wäre ja eine gute Sache, denn dann könnte sie uns motivieren, härter an uns zu arbeiten und dadurch Erfolg zu haben. Wenn der Perfektionismus jedoch so extrem wird, dass wir uns gar nichts mehr trauen, weil wir uns halb zu Tode kritisieren, dann haben wir ein ernst zu nehmendes Problem. Natürlich wollen wir alle einen optimalen Eindruck hinterlassen. Aber wenn wir jedes Mal unser tatsächliches Verhalten mit dem idealen Verhalten vergleichen und uns ständig fragen, was andere von uns denken könnten, wenn wir alles anzweifeln und infrage stellen, was wir tun, dann stürzt unser Selbstwertgefühl bald ins Bodenlose.
Das Verrückte an der Sache ist, dass den erwähnten Untersuchungen zufolge viele Schüchterne ihre Sache sehr gut machen – allerdings ohne dass ihnen selbst das auch entsprechend klarwird. Sie halten sich für sehr viel tapsiger und unbeholfener, als sie in Wirklichkeit sind. Nachdem sie eine bestimmte Situation durchlebt haben, teilen sie sich für ihr Verhalten viel mehr Minuspunkte zu, als es ein außenstehender, objektiver Beobachter täte.
Wenn ein Mensch, der nicht schüchtern ist, beim Kontakt mit anderen Menschen Erfolg hat, dann führt er das darauf zurück, dass er so liebenswert und geschickt im sozialen Umgang ist. Hat er Misserfolg, dann kann er das in der Regel leicht damit abbügeln, dass es nicht an ihm lag, sondern an seinem Gesprächspartner (der hatte wohl seinen schlechten Tag) oder den äußeren Umständen (die Musik war zu laut). Und er geht ganz automatisch davon aus, dass er das objektiv beurteilt und alle anderen es ebenso sehen würden wie er. Deshalb wird er, wenn er einen schüchternen Menschen sieht, sagen, dass derjenige selbst daran schuld ist, wenn er sich nicht traut, mal den Mund aufzumachen. Für die Schüchternen selbst allerdings stellt sich die Welt genau umgekehrt dar.
Bei einem psychologischen Experiment wurden eine schüchterne und eine nicht-schüchterne Person miteinander bekanntgemacht, woraufhin sie sich fünf Minuten lang miteinander unterhalten sollten. Danach fragten die Versuchsleiter jeden der beiden, woran er während des Gespräches gedacht und worauf er geachtet hatte. Das Ergebnis: Die Nicht-Schüchternen hatten sich 20 Prozent der Zeit mit sich selbst befasst, die Schüchternen doppelt so lange. Sie konzentrierten sich weniger auf ihren Gesprächspartner, sondern machten sich stattdessen ständig Sorgen, nicht höflich oder sympathisch genug zu sein, sich nicht deutlich genug auszudrücken und so weiter. Dabei entgingen ihnen natürlich aufschlussreiche Rückmeldungen ihres Gesprächspartners, und sie gingen vielleicht sogar weniger stark auf ihn ein, als angemessen gewesen wäre. Darunter leiden sie selbst aber am stärksten. Die meisten Schüchternen geben an, dass sie ihre unaufhörliche Beschäftigung mit ihren eigenen Hemmungen schwer erträglich finden.
Einer der Gedanken, die hinter diesem Aspekt von Schüchternheit stecken, ist eine kleine Allmachts- oder Kontrollfantasie. Verblüfft dich das? Überleg mal: Die Vorstellung »Ich kann mit dieser Frau nicht in Kontakt kommen, weil ich nicht perfekt genug bin« beinhaltet zugleich die Vorstellung »Wenn ich nur perfekt genug wäre, könnte ich mit dieser Person in Kontakt treten.« Tatsächlich gibt es aber möglicherweise Umstände, die völlig außerhalb deines Einflussbereichs liegen. Die betreffende Frau könnte es eilig haben oder starke Kopfschmerzen oder sie hatte gerade einen Trauerfall im Freundeskreis und muss das erst mal verarbeiten. Vielleicht lässt sie sich aus Prinzip nicht anquatschen, oder du erinnerst sie vom Äußeren her an einen Bekannten, mit dem sie nur die schlimmsten Erinnerungen verbindet. Eine Kontaktaufnahme ist kein Diktat und keine Mathe-Arbeit, bei der du mit genügend starker Leistung unweigerlich auf das gewünschte Ergebnis kommst. Manche Dinge entziehen sich deiner Kontrolle, auch wenn du
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